Um andere Konfessionen und Nichtgläubige nicht zu diskriminieren, verzichtet das Wiener Krankenhaus Nord auf Kreuze in den Zimmern und löst damit einen Sturm der Entrüstung und eine neue Kruzifixdebatte aus.

PRO

"Was ist christlich?" fragt Peter Huemer. Kreuze in jedem Spitalszimmer, aber keine Hilfe für ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer? Eine Politik des Kreuzes hatten wir schon einmal in unserer Geschichte. Sie hat unser Volk extrem zerrissen.

Frau Ministerin Edtstadler war als Kind in einem Salzburger Dorf Ministrantin und ihre Mutter hat in einer „erzbischöflichen Schule“ unterrichtet. Und deswegen muss die neuerrichtete Wiener Klinik Floridsdorf in den Zimmern Kreuze haben, sagt sie. Aha.
Frau Ministerin Raab kämpft auch dafür. Vor Kurzem hat sie das Kreuz als „klares Zeichen für unser christlich-jüdisches Erbe“ bezeichnet. Na ja. Im Zeichen des Kreuzes sind jüdische Menschen durch Jahrhunderte gedemütigt, verfolgt und ermordet worden.
Ein bisschen Ahnung sollte man schon haben, wenn man „christlich-jüdisches Erbe“ schwurbelt.

Was ist christlich? Kreuze in jedem Spitalszimmer, aber keine Hilfe für ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer? Frage: Falls eine Fähre oder ein Kreuzfahrtschiff kentert, dürfen die dann gerettet werden? Gilt das Nichtretten nur für Schwarzafrikaner – als pädagogische Maßnahme, damit nicht noch mehr die gefährliche Überfahrt wagen? Wobei uns Experten versichern: Wer sich von südlich der Sahara bis zur Küste des Mittelmeers durchgekämpft hat, dann noch ein libysches Folterlager überlebt hat, der schreckt vor keinem Risiko zurück.

Das wäre christlicher Erwägung wert.
Aggressive Identitätspolitik, die andere ausschließt, ist ein verlässliches Mittel, um eine Gesellschaft zu vergiften. Ursprünglich war dafür die FPÖ zuständig: „Abendland in Christenhand“. Wir erinnern uns: als in der Wiener Vorstadt ein muslimscher Gebetsraum errichtet werden sollte, hielt Strache vor dem Haus eine Brandrede und hielt demonstrativ das Kreuz in die Kamera. Und natürlich war es die FPÖ, die den Streit ums Kopftuch, den wir so nötig haben wie einen Kropf, nach Österreich getragen hat.
Jetzt hat die ÖVP, um sich von der FPÖ noch weniger zu unterscheiden, den Kampf um Kreuz und Kopftuch in ihr Programm übernommen. Weil sich Identitätsdebatten wundervoll eignen, über jedes Nebenthema eine Grundsatzdebatte zu führen. Das Kopftuch ist ideal. Darüber kann man endlos streiten, dafür und dagegen gewissenhaft abwägen – falls man mehr will als Hetze und politisches Kleingeld. Dazu kommt, dass sich die Frauen im Zeichen des Kreuzes 2000 Jahre hinten anstellen mussten. Nun kann man den Kampf gegen das Kopftuch sogar als weibliche Emanzipation verkaufen! Im Zeichen des Kreuzes! Das Schöne daran: Es geht gegen eine fremde Kultur.

Eine Politik im Zeichen des Kreuzes hatten wir einmal. Sie hat unser Volk extrem zerrissen. Daher ein frommer Seufzer zum Schluss: Gnade uns Gott, falls diese Partei eine absolute Mehrheit bekommt!

KONTRA

"Ja, das Kreuz ist verstörend", kontert Stephan Baier. Doch unabhängig von Glauben oder Nichtglauben, ist es Maßstab und Wahrzeichen einer Gesellschaft, die Menschlichkeit höher schätzt als macht und Machbarkeit. Deshalb soll es bleiben.

Öffentlich war das Kreuz immer: vor zweitausend Jahren als weithin sichtbares Zeichen römischer Gewaltherrschaft, brutaler Willkürmacht, grausamer Unterdrückung – Foltermethode und Hinrichtungsart zugleich.

Mit dem Kreuzestod Jesu von Nazareth geschieht ein wundersamer Bedeutungswandel: Aus dem Zeichen schmachvoller Hinrichtung wurde das Symbol selbstloser Nächstenliebe und unverbrüchlicher Humanität. Unsere Vorfahren identifizierten sich nicht mit dem mächtigen Statthalter Pilatus, sondern mit dem Justizopfer Jesus. Sie lernten zu verstehen, dass staatliches Recht der Gerechtigkeit dienen muss, dass die Willkür der Mächtigen in der Würde des Menschen ihre Grenze findet, dass Liebe stärker ist als der Hass und das Leben haltbarer als der Tod. All das konnten sie mehr und mehr zur Grundlage von Kultur und Rechtsordnung werden lassen, weil sie glaubten, dass Jesus nicht nur ein wehrloses Opfer römischer Fremdherrschaft war, sondern seinen Kreuzestod bewusst und für uns Menschen annahm. Und weiter, dass Gott seinen Tod in neues Leben wandelte – jener Gott, der nach Jesu Lehre sein und unser Vater ist.
Man muss nicht praktizierender, ja nicht einmal gläubiger Christ sein, um diesen Bedeutungswandel des Kreuzes schön und sinnstiftend zu finden: Hegen wir nicht alle die heimliche Hoffnung, am Ende könnte doch die Liebe das letzte Wort haben, nicht der Hass? Lebt nicht in jedem von uns eine Sehnsucht, auf uns könnte ein ewiges Leben warten, und nicht nur der Tod?

Ja, das Kreuz ist immer verstörend: Es stört die Mächtigen, weil es einen Machtlosen zeigt, den der Allmächtige dem Tod entrissen hat. Es stört die Oberflächlichen, weil es zeigt, zu welcher Grausamkeit der Mensch fähig ist – und zu welcher leidenschaftlichen Liebe Gott. Es erinnert daran, dass es neben dem Hier und Jetzt die Dimensionen von Sinn und Ewigkeit gibt. Es verpflichtet Regierende, Gesetzgeber und Richter zu Gemeinwohl und Gerechtigkeit.

Manche von uns, die Christgläubigen, verehren das Kreuz als Symbol der erlösenden Barmherzigkeit Gottes. Jeder aber sollte es annehmen können als Wahrzeichen tiefster Menschlichkeit. Als Symbol und Maßstab einer Gesellschaft, die jedem Menschen Recht und Würde zuspricht, und Menschlichkeit höher schätzt als Macht und Machbarkeit. Darum sollte es sichtbar sein und bleiben: Die mahnende Erinnerung daran, dass Liebe stärker ist als Hass, und das Leben wirklicher als der Tod, hält unsere säkulare Gesellschaft nicht nur aus. Sie braucht sie sogar.