Am Tag der offenen Tür am Nationalfeiertag war es wieder zu beobachten: Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein kann sich des Selfie-Ansturms kaum erwehren. Bis auf den Ballhausplatz reichte die Schlange derjenigen, die ein Foto erhaschen wollten. Zwei Stunden stand die 70-Jährige im Dauereinsatz. Nicht wenige Bürger raunten ihr zu, sie möge doch bleiben oder 2022 für die Hofburg kandidieren.

Im Beliebtheitsranking kann sie es locker mit Alexander Van der Bellen und Sebastian Kurz aufnehmen. Nach dem Aus für Türkis-Blau hat sich das aufgeheizte innenpolitische Klima merklich entkrampft, Bierlein und ihr Team schlagen versöhnliche Töne an. Doch hat sich auch inhaltlich etwas geändert? Trügt der Schein?

Gestern wurde publik, dass die Regierung im Streit mit der EU um die Indexierung der Familienbeihilfe an der umstrittenen Regelung festhält. Wenig überraschend ließ die grüne EU-Abgeordnete Monika Vana gestern ihrer Empörung freien Lauf. „Es ist absolut unverständlich, warum die Übergangsregierung an der Indexierung der Familienbeihilfe festhält.“ Der Regierung agiert hier fremdbestimmt. Sie verfügt über keine Mehrheit im Nationalrat, die Indexierung ist seit 1. Jänner Gesetz.

Für Kontinuität sorgt auch Innenminister Wolfgang Peschorn. Als kürzlich alle EU-Staaten gefragt wurden, ob man ein paar Bootsflüchtlinge aufzunehmen bereit sei, gab es ein unmissverständliches Nein aus Wien. Bei Lehrlingen und Flüchtlingen, denen das Asylrecht verwehrt wurde, hat sich an der Abschiebepraxis kein Jota geändert, und auch an den Grenzkontrollen hält man fest. „Es gibt keinen Grund, hier Weichenstellungen vorzunehmen, weil sich die Politik gut bewährt hat“, erklärt ein Insider. Bei den Lehrlingen sind Änderungen denkbar, zuvor bedarf es des Einvernehmens mit dem Parlament. Das umstrittene Schild in Traiskirchen („Ausreisezentrum“) sowie die 1,50-Euro-Regelung wurden bereits von Amtsvorgänger Eckart Ratz rückgängig gemacht. Ausständig ist Peschorns Entscheid zu Kickls Polizeipferden.

Keine einzige innenpolitische Pressekonferenz

Mangels parlamentarischer Mehrheit stößt die Übergangsregierung mit ihrem verbindlichen, versöhnlichen Ton schnell an ihre gestalterischen Grenzen. Das gereicht Bierlein, die bisher noch keine einzige Pressekonferenz abgehalten hat, zum Vorteil, denn so bleibt sie den innenpolitischen Niederungen mit dem Parteiengezänk und den Polarisierungsspiralen entrückt. „Sie kann einen anderen, nahezu präsidentiellen Stil pflegen, sie muss auch keine Wahlen gewinnen“, erklärt ein Stratege. Zumindest Verteidigungsminister Thomas Starlinger („2020 ist das Bundesheer pleite“) und Justizminister Clemens Jabloner („Die Justiz stirbt einen stillen Tod“) bürsten gegen den Strich und legen sich’s mit der Vorgängerregierung an – rhetorisch.