Die neue Wortzuschreibung - der Bundespräsident ist ein adretter älterer Herr; aber „Schönheit“ und „Eleganz“ attestiert er nicht sich vor dem Badezimmerspiegel, sondern wenn er die österreichische Bundesverfassung zur Hand nimmt.

Jene Verfassung, deren Hundertjährigkeit wir im nächsten Jahr feiern. Eine weitere Gemeinsamkeit von Präsident und Verfassung jenseits der Attraktivität: Beide werden im Normalbetrieb des österreichischen stammtischförmigen wie auch quasi-intellektuellen Lebens als „Überflüssigkeiten“ betrachtet.

Die Verfassung, dieses vage Gebilde über den Wolken, wird unterschätzt. Sie hilft nicht nur in der Krise dieser Tage, eigentlich verhindert sie eine Krise. Es werden jedoch in der außergewöhnlichen Situation Dinge sichtbar, die ansonsten verborgen sind. Politikturbulenzen wie in diesen Tagen haben es an sich, dass sie nicht nur eine erschreckende „Hinterbühne“, eine holprige Regierungspolitik und eine miese Oppositionspolitik zur Kenntlichkeit bringen, sondern zuweilen auch an jenes Gerüst erinnern, welches das politische System in diesem Lande trägt, also auch die Demokratie sichert - gegen alle Widerlichkeiten des Geschehens.

Was ist Demokratie?

Man muss sich ja bewusst machen: Eine Verfassung soll in aller Kürze Vorkehrungen treffen für alle nur denkbaren und undenkbaren Situationen des politischen Lebens, die vielleicht erst ein Jahrhundert später (wie in diesem Fall) eintreten. Dies in Prägnanz, Präzision und Transparenz zu tun - das mag man mit Recht Schönheit oder Eleganz nennen.

Erstens: Zuweilen pflege ich Studierenden die einfache Frage zu stellen: Was ist Demokratie? Die meisten antworten: Wahlen. Dann gebe ich zurück: Putin? Erdogan? Wie demokratisch sind diese Systeme? Dann entsteht Verwirrung bei den jugendlichen Trägern unserer europäischen Erbschaft. Wahlen sind ein bedeutendes Element, aber sie reichen lange nicht zum Betrieb einer Demokratie.

Die Elemente der Verfassung

Die weiteren Elemente, die eine Verfassung zumindest teilweise absichern muss, sind: (1) Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Justiz: die unglaubliche und durchsetzbare Idee, dass auch herrschende Schichten und Amtsinhaber sich an Gesetze zu halten haben. Diese Bedingung ist in der Mehrzahl der Staaten dieser Erde nicht gegeben.

(2) Liberalität, Grund- und Menschenrechte: Demokratie bedeutet die Durchsetzung von Mehrheitsauffassungen, aber eine ganze Reihe von Rechten und Freiheiten sind dem Mehrheitsentscheid entzogen. Die Mehrheit darf nicht entscheiden über individuelle Religion, über Meinungsäußerungen, über das Eigentum von Einzelnen und vieles andere. Es gibt keine „illiberale Demokratie“: Wenn Demokratie bloß Mehrheitsentscheidung wäre, wäre es, wie schon Joseph Schumpeter gemeint hat, untadelig demokratisch, wenn die Mehrheit das Verbrennen von Hexen oder das Vergasen von Muslimen beschlösse.

(3) Eine klug strukturierende Verfassung mit ausreichender Gewaltenteilung; ein arbeitsfähiges Parlament und die sonstigen vorgesehenen Institutionen (bis hin zu den Höchstgerichten und Kontrollorganen wie etwa dem Rechnungshof oder der Volksanwaltschaft); und eine Mehrheit von politischen Parteien, die sich als im Rahmen des Verfassungsbogens befindlich verstehen.

(4) Eine effiziente Verwaltung, die leistungsfähig ist und ohne allzu viel Korruption arbeitet. Korrupte Staatsmaschinerien sind das entscheidende Entwicklungshindernis in Ländern der europäischen Peripherie.

(5) Eine demokratische Öffentlichkeit, mit (mehr oder minder) unabhängigen Medien, in denen (auch unter sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen) Reste einer journalistischen Ethik und Intellektualität wirksam sein müssen.

Die Illusion der 1990er-Jahre

Das alles ist ein komplexes Gefüge, und keines der wesentlichen Elemente in diesem Szenarium darf ausfallen, sonst kommen auch die anderen Elemente ins Taumeln. Das sollten Wählerinnen und Wähler wissen. Wenn man nämlich Demokratie für selbstverständlich hält, ist sie zur Hälfte bereits verspielt. Noch in den 1990er-Jahren hätte man die europäischen Demokratien für stabile Gebilde gehalten, resistent und wohlverankert im Bewusstsein der Wählerschaften; mittlerweile wissen wir, dass dies eine Illusion gewesen ist. In Wahrheit bedarf es einer ständigen mühsamen, leidigen Arbeit an dem System, um eine Degeneration zu verhindern.

Zweitens: Die meisten glauben, die Griechen hätten die Demokratie erfunden. Doch diese haben nichts erfunden, was unserem Demokratiemodell einigermaßen ähnelt - sie haben eher den Mob auf dem Hauptplatz erfunden, der auf demokratische Weise missliebige Philosophen liquidiert.

Die Balance aus dem Alten Rom

Die Römer waren beim „institution building“ genial. Sie haben etwa die beiden Kammern (als Repräsentation von Adel und Volk) entwickelt, die immer noch in den meisten Verfassungen gegenwärtig sind. (In den USA heißt eine Kammer immer noch Senat, in Britannien sitzen im Oberhaus immer noch die Lords.) Die beiden Kammern werden heute meist anders zusammengesetzt, aber die Grundidee ist: zwei Körperschaften, die einander als Mächte ausbalancieren. Zudem entwickelten die Römer eine zeitlich beschränkte Exekutive (mit Vorkehrungen für Notfälle) und ein großartiges Rechtssystem. Checks and balances. Ausgefeilt wurde das Modell in der europäischen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts.

Zwei Gegensätze muss eine „schöne“ Verfassung im Grunde vereinen: Einerseits muss eine durchsetzungsfähige Regierung zustande kommen, die nicht durch so viele Komplikationen gelähmt wird, dass sie überall an interessengeleitete Vetos stößt und nichts mehr zuwege bringt. Andererseits muss der Regierungs- und Gesetzgebungsprozess durch so viele „Gegenmächte“ kontrolliert werden, dass dann, wenn eines der Organe „verrückt“ wird, seine Maßnahmen unterbunden werden können.

So läuft etwa der Gesetzgebungsprozess über diverse „Schleusen“: Gesetzesinitiative (im Normalfall) durch die Regierung oder durch Abgeordnete; Behandlung in Ausschüssen und im Plenum des Nationalrats; Behandlung im Bundesrat; Bestätigung des korrekten Zustandekommens durch Unterschrift des Bundespräsidenten; Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler; Kundmachung. Dann kann immer noch der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz aufheben. - Nichts ist unfehlbar; aber es geht um ein System, welches „Ausreißer“ nach Tunlichkeit korrigiert.

Das Amt des Bundespräsidenten abschaffen?

In diesen Tagen steht der Bundespräsident im Mittelpunkt. Wenn der Bundespräsident ein Gesetz nicht unterschreibt, weil er es für verfassungswidrig hält, dann gibt es das Gesetz nicht. Die letzten Jahrzehnte ist öfter darüber diskutiert worden, die Funktion des Bundespräsidenten abzuschaffen, zusammen mit dem Bundesrat. Man brauche sie nicht. Im Moment haben wir einen anderen Eindruck.

Das Gegenargument gegen die Abschaffung ist selten verstanden worden: In der Tat braucht man den Bundespräsidenten im „Normalbetrieb“ (fast) nicht: reine Repräsentation. Aber es ist eine Funktion für Notfälle, bis hin zum Kriegsfall. Auch für innere Konflikte: Eine der besonderen Funktionen des Präsidenten ist es, dass er Oberbefehlshaber des Bundesheeres ist. Diese Zuständigkeit des direkt vom Volk gewählten Präsidenten ist auch im Hinblick auf die österreichische Geschichte zu bewerten.

Keine Demokratie ohne gute Verwaltung

Drittens: Eine Zeit lang läuft es auch ohne Regierung. Es gibt keine geordnete Demokratie ohne gute Verwaltung. Die österreichische Verwaltung, ebenfalls ein Produkt der Verfassung, ist eine leistungsfähige Maschinerie, wie sie schon Max Weber geschildert hat. Immer wieder gescholten als Bürokratie; aber immer wieder angerufen von jenen, die ihre Leistungen benötigen.

Bürokratie ist es, wenn das Trinkwasser aus der Wasserleitung kommt, wenn die Straßenbahn fährt, wenn die Krankenhäuser funktionieren. Bürokratie ist es, wenn die Ampeln schalten, wenn Nahrungsmittel kontrolliert werden, wenn die Elektrizität aus der Steckdose kommt und wenn Pensionen überwiesen werden. Auch wenn die hohe Politik ihre Turbulenzen auslebt, arbeitet diese Maschinerie weiter (vielleicht besser als bei dauernden politischen „Störungen“).

In den unterschiedlichen Etagen der Verwaltung, nicht bei der Politik, ist der Sachverstand zu Hause, dort ist, wie sich zeigt, das personelle Reservoir für eine „Expertenregierung“. Auch sonst müssen politische Machthaber, wenn sie ihre Ämter antreten, nicht nur von den sachzuständigen Bürokraten „eingeschult“ werden, sie sind auch auf deren permanente Hilfe und Zuarbeit angewiesen. Sachlich wandeln sie ohnehin auf dünnem Eis. Ohne kompetente Verwaltung geht nichts, auch keine Demokratie. Ein vergleichender Blick über die Welt zeigt es.

Kann die Demokratie das Internet überleben?

Viertens: Das waren die konstruktiven Argumente. Aber die Zeitläufte lehren, dass die Bedrohung der Demokratie über die allgemeine Gefahr möglicher Entgleisbarkeit hinausgeht. Auch eine „schöne und elegante Verfassung“ ist auf weitere „verfassungsexterne“ Elemente angewiesen. Da sind zunächst die Bedingungen einer digitalisierten und kommunikativierten Welt. Kann die Demokratie das Internet überleben? Es ist paradox: Ursprünglich hätte man gedacht, dass die Zugänglichkeit aller Informationen, die bessere Bildung, der weitere Horizont das demokratische Funktionieren verbessern.

Rasch haben wir gelernt, dass neue Mechanismen im Spiel sind: Hassstürme, die unüberbrückbare Fronten erzeugen; Emotionalisierungen, die jede Diskussion verunmöglichen; Bubbles, die Information und Horizont einengen statt erweitern. Die „Informationsgesellschaft“ wird zur Welt der Vorverurteilungen, der Heucheleien, der Lynchjustiz, des Sadismus. Dazu die ausländischen Interventionen und heimischen Intrigen. Und der Rhythmus der Medien, die im Minutentakt über Vorgänge berichten, ist nicht nur Widerspiegelung der Geschehnisse, sondern auch Wirkkraft, nicht nur zum Guten: Visualisierung, medienkompatible Verkürzungen, Meinungsmarktkonformität, Bluff. Das kann die schönste Verfassung nicht verhindern.

Politische Tugenden

Fünftens: In die Kategorie des Zweifels an der Stabilität gehört schließlich auch ein höchst unmoderner Begriff, jener der politischen Tugend. Er steht für Gemeinwohlorientierung, Kooperationsbereitschaft, Selbstdisziplin. Das konstitutionelle Gerüst mag noch so ausgetüftelt sein; es gilt, was für alle Rechtsordnungen gilt: Man braucht Menschen, die eine Gesinnung leben. Keine Demokratie ohne Demokraten.

Ein Beispiel für üble Obstruktionspolitik haben die Republikaner in der Obama-Zeit geliefert, auf der Grundlage der ohnehin schlechten US-Constitution: Alles, was vernünftig ist, muss verhindert werden, um sagen zu können, dass der unerwünschte Präsident nichts Vernünftiges zustande gebracht hat. Selbst möglichst viel Chaos erzeugen, um den politischen Gegner der Unfähigkeit zur Chaosverhinderung zu zeihen. Blockieren, um Blockade zu beklagen. Diese Reflexe gibt es nicht nur in den USA. Demokratie, sagt Hans Kelsen, ist nicht die Tyrannei der 51 %. Sie braucht Respekt, Akzeptanz, Nüchternheit, Regelgehorsam - Tugenden rationaler Selbstdisziplin.

Der Begriff des Vertrauens ist in den letzten Tagen häufig verwendet worden; aber er trifft eigentlich nicht das Essenzielle. Denn eigentlich geht es eher darum, das „Gemeinwohl“ (welch pathetisches Wort) über parteipolitische Taktiererei zu stellen. Wir wollen dabei nicht naiv sein; aber diese Szenen gehören zu den unerträglichsten: Wenn auf miese Art mit dem politischen Kleingeld geklimpert wird und gleichzeitig die höchsten moralischen Werte beschworen werden.

Wenn das Gemeinsame gänzlich verschwindet, ist auch die Demokratie bald weg. Manche haben schon die Epoche der „Postdemokratie“ ausgerufen. Das mag man übertrieben finden. Aber wir lernen, dass Menschenwerk, auch ein demokratisches Gefüge, anfällig ist für Anfechtungen aller Art. Auch die schönste und eleganteste Verfassung kann nicht alles kompensieren.