Mitten in den Wallungen der ausgebrochenen Regierungskrise überraschte Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit seinen verbalen Verneigungen vor der Verfassung, deren Schönheit und Eleganz er in seinen Ansprachen an die Nation pries. Ganz allgemein zwar, aber im Speziellen zielte er auf jene Passagen im obersten Regelwerk der Republik ab, welche die Abläufe für den Fall des Zerbröselns einer Regierung festlegen. Schließlich beruft die Verfassung das Staatsoberhaupt, sonst im politischen Alltag eher auf eine Repräsentationsfunktion beschränkt, zum höchsten Krisenmanager und gestaltet ihn mit umfassenden Vollmachten ausgestattet zu einem Hort der Stabilität.

Werfen wir einen Blick auf die erste Verfassung, welche sich die junge Republik Österreich gab. Die politische Macht wurde dabei besonders auf das Parlament konzentriert. Der Nationalrat wählte den Bundeskanzler und die Regierung, konnte sie auch abberufen, die Bundesversammlung bestellte den Bundespräsidenten, dem vor allem die Aufgabe eines Grüßaugusts zugewiesen worden war. Die Sozialdemokraten hatten zuerst überhaupt die Schaffung des Amtes eines Bundespräsidenten abgelehnt, sie wollten keinen Ersatzkaiser für das erst zur Republik gewordene Land.

Also sind vom ersten Bundespräsidenten Michael Hainisch Anekdoten überliefert, in denen er seine Machtlosigkeit beklagte. Als ihm ein Passant das heruntergefallene Taschentuch reichte, sagte Hainisch dankend, das Taschentuch sei schließlich die einzige Sache, in die er seine Nase hineinstecken dürfe. Auf die Einladung des Wiener Erzbischofs zur Fronleichnamsprozession soll Hainisch geantwortet haben, er könne nur auf Aufforderung der Regierung etwas tun.Der Name Hainisch verdient trotzdem einen herausragenden Platz in der Chronik: Marianne Hainisch, die Mama des Bundespräsidenten, eine Leitfigur der frühen Frauenbewegung, etablierte den Muttertag als Festtag auch in Österreich. Der wurde erstmals 1924 in der rot-weiß-roten Republik gefeiert, in einer politisch ungemütlich werdenden Zeit. Drei Jahre nach dem ersten Muttertagsfest bebte Österreich. Das Urteil, das Mitglieder der Frontkämpfer-Vereinigung, die im burgenländischen Schattendorf zwei sozialdemokratische Schutzbündler erschossen hatten, freisprach, löste heftige Demonstrationen in Wien aus - die Julirevolte, in deren Folge der Justizpalast brannte. Die Polizei unter ihrem Präsidenten Johann Schober ging mit Gewalt gegen die rasende Menge vor. Der Tag endete mit mehr als 80 Toten bei den Demonstranten und fünf toten Polizisten.

Zwölf Regierungen zwischen 1920 und 1929

Die Saat für die endgültige Radikalisierung der politischen Lager in einer politisch ohnehin instabilen Zeit war damit gelegt. Die Erste Republik verschliss zwischen 1920 und 1929 zwölf Regierungen. Vor allem die erstarkten Heimwehren nährten die Sehnsucht nach einem starken Mann im Staat und drängten auf eine Änderung der Verfassung, mit einer Einschränkung der Befugnisse des Parlaments und dafür mehr Macht für den Bundespräsidenten. Die Novellierung richtete sich nicht zuletzt gegen die oppositionellen Sozialdemokraten, die bei der Nationalratswahl 1927 von 165 Sitzen immerhin 71 errungen hatten, während die antimarxistische Einheitsliste mit den Christlichsozialen, der Großdeutschen Volkspartei und anderen dem Bündnis beigetretenen Kleinparteien auf 82 Mandate gekommen waren.

Der christlichsoziale Bundeskanzler Ernst Streeruwitz schaffte es nicht, eine Novellierung der Bundesverfassung durchzubringen. Seine Kanzlerschaft währte keine fünf Monate, nach ihm kam als parteiloser Regierungschef der ehemalige Wiener Polizeipräsident Schober, der zwei Jahre zuvor den Juliputsch niedergeschlagen hatte. Auch er war für eine Verfassungsreform. Der aus Tirol stammende Bundesführer der Heimwehren, Richard Steidle, hatte den Wunsch der Heimwehren präzisiert: „Weil wir den Bürgerfrieden und einen Ordnungsstaat wollen, der nur durch eine Verstärkung der Staatsautorität gesichert werden kann, rufen wir nach einer Verfassungsreform, welche eine ruhige Staatsleitung auch in dem Falle gewährleistet, wenn eine verantwortungs- und hemmungslose Opposition die parlamentarische Einrichtung missbraucht.“ Und die Drohung folgte: „Wenn die Herren es nicht anders wollen, so werden wir die Änderung durch den Druck erzwingen.“

Die Rechte des Bundespräsidenten

Die Sozialdemokraten ließen sich ihre Zustimmung durch Zugeständnisse abkaufen. Zum einen konnten sie verhindern, dass das „rote“ Wien seinen Status als Bundesland verlor. Zum anderen setzten sie durch, dass der Bundespräsident in der Ausübung eines guten Teils seiner neuen Machtfülle an die Vorschläge der Bundesregierung gebunden ist.

Schon allein, dass die Bundesverfassungsnovelle 1929 die Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk festlegt, hebt dieses Amt hervor. In der Entscheidung, wen er mit der Bildung der Regierung, mit der Kanzlerschaft beauftragt, und bei der Entlassung des Regierungschefs oder der gesamten Regierung bekommt er völlig freie Hand. Bei der Bestellung der Minister kommt ihm ein gewichtiges Mitspracherecht zu. Manches erweist sich freilich als Theorie, wie sich später zeigen wird. Damit die Bäume des Bundespräsidenten nicht in den sprichwörtlichen Himmel wachsen, legt ihm die Verfassung Zügel an. Denn bei den meisten anderen Agenden ist das Staatsoberhaupt an den Vorschlag des Kanzlers oder der Minister gebunden.

Und aus der Direktwahl wird vorerst ohnehin nichts. Der erste Bundespräsident, den das Volk wählt, ist 1951 Theodor Körner. Und die 1929 novellierte Verfassung wird fünf Jahre später durch die Verfassung des Ständestaates ersetzt.

Nach der Beseitigung der Naziherrschaft und der Wiedererrichtung Österreichs als eigenem Staat übernahm man vorerst entgegen dem Willen der sowjetischen Besatzungsmacht die Verfassung von 1929 der Ersten Republik. Ursprüngliche Provisorien haben in Österreich oft kein Ablaufdatum. Neben der wieder geltenden Bundesverfassung entwickelten sich nach 1945 neue Machtstrukturen. Die Sozialpartnerschaft, die über Jahrzehnte zum eigentlichen Machtzentrum, einer Art Überregierung, wucherte. Der Bundespräsident hatte trotz der ihm zugeordneten Macht vor allem protokollarische Aufgaben zu erfüllen. Mit einigen Ausnahmen. Bundespräsident Körner hatte es mit einer streitbaren schwarz-roten Koalitionsregierung zu tun. Von Körner sagt man, er habe die Parteien immer wieder wissen lassen, er habe die Liste einer Beamtenregierung in seiner Schreibtischlade. Eine andere Episode: Als die Regierung infolge eines Budgetstreits wieder einmal auseinandergehen und Neuwahlen wollte, die Parteichefs bei Körner um einen Termin ansuchten, ließ der Bundespräsident ausrichten, er habe jetzt gar keine Zeit, er müsse nach Villach fahren, das neue Rathaus einweihen. Als Körner wieder nach Wien zurückkehrte, hatten sich die Wogen geglättet.

Ein anderer Bundespräsident erfuhr, was es heißt, wenn er seine Rechte durchsetzen will und doch nicht kann. Thomas Klestil wollte mehr Anteil am politischen Alltagsleben und erhielt eine Abfuhr. Die Regierungskoalition aus ÖVP und F

PÖ, die Wolfgang Schüssel zimmerte, konnte Bundespräsident Klestil schlussendlich nicht verhindern, sondern die Angelobung nur mit grimmigem Blick begleiten. Überlegungen des ersten Mannes im Staat, statt einer schwarz-blauen Koalition eine aus Beamten zusammengesetzte Regierung anzugeloben und danach auf Neuwahlen zuzusteuern, waren verworfen worden.

Dass Klestil, der mit dem Slogan „Macht braucht Kontrolle“ ins Präsidentenamt gewählt worden war, versucht hatte, auf die verbrieften Rechte des Bundespräsidenten zu pochen, erzürnte und blieb nicht ohne Folgen. Nationalratspräsident Andreas Khol (ÖVP), selbst ein Verfassungsgelehrter, eröffnete eine Diskussion über die Beschneidung der Rechte des Staatsoberhauptes, sprach von der Beseitigung des „Verfassungsschotters“. Das Unterfangen blieb im Versuch stecken.

Verwischung der Gewaltentrennung

Die österreichische Politik schlug längst nicht von der Verfassung vorgezeichnete Wege ein. Wie eben die Sozialpartnerschaft. Oder die Verwischung der Gewaltentrennung von Legislative und Exekutive. Der Nationalrat ließ sich über Jahrzehnte, eigentlich bis zur vorigen Woche, zu einem mehrheitlichen Erfüllungsgehilfen der Regierung degradieren. Die Klubobleute der Regierungsparteien nahmen an den Ministerratssitzungen teil, obwohl sie dort nichts verloren haben. Damit die Abgeordneten auch wissen, was sie zu tun haben. Ach was, diese lästige Gewaltentrennung.

Das Nationalratspräsidium geriet zur Wartestube für Ministerämter, wie auch der Nationalrat selbst. Man springt vom Abgeordnetenmandat in ein Ministerium und wieder zurück. Vom Buchstaben des Gesetzes her statthaft, aber vom Geist der Verfassung her mehr als fragwürdig. Vom Respekt vor der gesetzgebenden Institution ganz zu schweigen.

Die tatsächliche Schönheit unserer Bundesverfassung

Für Abweichungen von dem obersten Regelwerk, das ein Land im Innersten zusammenhalten sollte, oder gar dessen Teilignorieren fanden geduldige oder wohlwollende Juristen die kaschierende Bezeichnung „Realverfassung“. Eine Freundlichkeit für die Nichteinhaltung der Verfassung - eine „Real-Straßenverkehrsordnung“, die legitimiert, wenn sich Autofahrer nicht an die geltende Straßenverkehrsordnung halten, erfand bis jetzt noch niemand.

Zum ersten Mal erlebt Österreich derzeit jedenfalls, wie die Verfassung im Ernstfall tatsächlich funktionieren kann, wie ein Bundespräsident unter Nutzung seiner verfassungsrechtlichen Vollmacht agieren darf, manchmal auch muss. Deshalb die Verfassung und deren gewichtigen Part aus dem problematischen Jahr 1929 euphorisch zu loben, mag der angespannten Situation entspringen. Die wahre Eleganz unserer Verfassung dürfte jedoch dann zu finden sein, wenn die drastisch vorgesehenen Maßnahmen dieses Betriebssystems erst gar nicht angewendet zu werden brauchen. Darin liegt die tatsächliche Schönheit unserer Bundesverfassung.