Überrascht Sie die Empfehlung des Generalanwalts, die deutsche Maut zuzulassen?

Walter Obwexer: Ja – aber nicht so sehr das Ergebnis. Die Argumentation ist aus meiner Sicht falsch.

Inwiefern?

Der ganze Entscheidungsvorschlag basiert auf der Annahme, Österreich habe das Diskriminierungsverbot missverstanden, man müsse die beiden deutschen Regelungen – Maut und Steuerentlastung – als Paket sehen. Diskriminierung wäre nur, wenn die unterschiedlich behandelten Personengruppen in der gleichen Situation wären. Später trennt der Generalanwalt aber selbst diese Gruppen: im Hinblick auf die Maut befänden sich deutsche Kfz-Halter in der gleichen Situation wie österreichische, italienische, usw. Hinsichtlich der Steuer befänden ich die KFZ Halter mit einem deutschen Nummernschild in einer anderen Situation als alle anderen, weil letzterenicht in Deutschland steuerpflichtig sind. Konsistent ist das nicht.

Gehen sie davon aus, dass der EuGH dem folgen wird?

In mehr als 90 Prozent der Fälle folgt der Gerichtshof dem Generalanwalt. Allerdings nicht immer in besonders sensiblen oder heiklen. Zu diesen zähle ich auch die deutsche Maut. Deshalb habe ich zumindest die begründete Vermutung, dass er hier nicht zur Gänze folgt.

Der Innsbrucker Europarechts-Professor Walter Obwexer
Der Innsbrucker Europarechts-Professor Walter Obwexer © APA/HANS PUNZ

Was hieße es für den europäischen Gedanken, wenn der EuGH so urteilt?

Das hätte, vorsichtig formuliert, eine Sprengkraft, die über den Brexit hinausgeht. Wenn der EuGH den Mitgliedstaaten diese Möglichkeit gibt, kreiert er ein desintegratives Element.

Was für Folgen sehen Sie?

Österreich wäre gut beraten, im Fall so eines Urteils nächstes Jahr den Preis unserer Vignette auf das Doppelte zu erhöhen – und die KFZ-Steuer um diesen Betrag zu senken. Das zahlen dann unsere deutschen Freunde, die Niederländer und die Belgier, usw. Und dann gibt es Gemeindeabgaben, Studiengebühren, Zweitwohnsitzabgaben…die Mitgliedstaaten wären erfinderisch, „Ausländerabgaben“ einzuführen. Dass eine Union geschädigt wird, wenn jeder Mitgliedstaat nur noch überlegt, wie kann ich die anderen abcashen, das kann nicht gut gehen. Der Brexit ist zwar ein Aderlass, aber wenn er erledigt ist, ist das vorbei. Wenn so ein Spaltzpilz in die europäische Familie kommt, dann ist das kein einmaliges Ereignis, sondern eine langfristige Schwächung. 

Wäre das ein Präjudiz, ob Österreich die Familienbeihilfe indexieren darf?

Nicht direkt, indirekt schon. Der Generalanwalt argumentiert, dass deutsche Kfz-Halter sich nicht in der gleichen Situation befinden wie ausländische. Österreich könnte argumentieren, Arbeitnehmer, die ihre Familie hierhaben, sind in einer anderen Situation wie jene, die ihre Familien in einem anderen EU-Land haben, daher ist das keine Ungleichbehandlung. Die Indexierung steht zwar auch noch mit einer speziellen sekundärrechtlichen Bestimmung  zu Familienleistungn in Spannung – aber wenn man einmal sagt, das sind ja ganz unterschiedliche Situationen, könnte man nicht nur Indexieren, sondern die Familienbeihilfe sogar komplett streichen.