Dass sich die türkis-blaue Koalition und das rot-grün regierte Wien früher oder später in die Haare geraten würden, war immer klar. Im Herbst 2020 wählt Wien, es gilt als ausgemachte Sache, dass die Wiener SPÖ mit Türkis-Blau als Feindbild in die Wahl geht. Die Warnung vor einem blauen Bürgermeister hatte schon 2015 und 2010 unter Bürgermeister Michael Häupl eine mobilisierende Wirkung entfaltet, die Wiederholung der „Schlacht um Wien“ werden sich die Kampagnenmanager nicht entgehen lassen.

Doch Sebastian Kurz oder Heinz-Christian Strache sind nicht gewillt, das Terrain der Wiener SPÖ kampflos zu überlassen. Thematisch stand die jüngste Regierungsklausur durchaus auch im Zeichen des Wiener Urnengangs: Auf Drängen der FPÖ werden bereits mit 1. Jänner 2020 die untersten Einkommen entlastet, Geringverdiener zählen zur blauen Kernklientel. Strache fuhr bei der letzten Gemeinderatswahl 30,8 Prozent ein, ein sattes Minus könnte die türkis-blaue Koalition gefährden – kein Wunder, dass große Teile der blauen Regierungsmannschaft ihr Inseratenbudget in den Wiener Boulevard stecken. Die kommenden Monate sollen außerdem von der Pflegedebatte bestimmt werden. ÖVP und FPÖ wollen sich nicht wie Wolfgang Schüssel den Vorwurf der sozialen Kälte einhandeln – Verschärfungen bei Mindestsicherung und AMS stehen dem nicht entgegen. Zuletzt tauchte das Gerücht auf, die Regierung wolle die Reform der Notstandshilfe verschieben.

Schlagabtausch zwischen Bund und Stadt

Innenpolitisch wird das Wochenende von einem harschen Schlagabtausch zwischen Bund und Stadt überschattet. Die geplanten Kürzungen bei der Mindestsicherung haben Wiens SPÖ-Gesundheitsstadtrat Peter Hacker und die neue Grünen-Chefin Birgit Hebein zu einem ungewohnten Schritt veranlasst: Wien will das Bundesgesetz nicht umsetzen. Das Njet haben Kanzler und Vizekanzler am Rande der Klausur zu ungewohnt heftigen Attacken bewogen. Nebenbei ließ Kurz unter Verweis auf die hohe Zahl der Mindestsicherungs- und AMS-Bezieher den Satz fallen, in Wien würden „immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen“. Kampagnenfähigkeit hat die Wiener SPÖ bewiesen, indem sie unter dem Hashtag #WienStehtAuf Straßenbahnfahrer oder Bedienstete der Müllabfuhr, die zu nachtschlafender Zeit auf dem Weg zum Arbeitsplatz sind, zu Wort kommen lassen. Gestern legte Wiens SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig nach. Der Bund betreibe eine „herzlose Politik“, das „zynische Herziehen über die Bevölkerung von Wien“ empöre ihn.

Nun sind allerdings Interviews aufgetaucht, in denen namhafte SPÖ-Politiker ähnliche Aussagen getätigt haben. Wiens Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky beklagte im September in der Krone, dass man es an Brennpunktschulen mit Schülern zu tun habe, die „vielleicht sogar die Einzigen sind, die in der Früh aufstehen“. Im Juni 2016 erklärte Ex-Kanzler Christian Kern im „Profil“: „Bei unserer Klientel ist teils der Eindruck entstanden, dass wir früher für jene da waren, die um sechs Uhr früh arbeiten gehen – und jetzt nur noch für jene da sind, die um sechs Uhr früh ihr erstes Bier öffnen.“