"Es ist ein Symptom der politischen Kultur – an der Spitze der ÖVP ist kein Verständnis für Parlamentarismus vorhanden.“ Jörg Leichtfried, Ex-Minister und nunmehr als Vizeklubobmann der SPÖ einer ihrer aktivsten Parlamentarier, nimmt sich kein Blatt vor den Mund; „Eindeutig schlechter geworden“ sei das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament, seit die türkis-blaue Koalition an der Macht sei.

Leichtfried hatte am Mittwoch seine Unzufriedenheit mit Bundeskanzler Sebastian Kurz’ Unaufmerksamkeit im Parlament lautstark Ausdruck verliehen, als dieser während Leichtfrieds Antwort auf seine Europarede am Handy herumtippte: „Candy Crush, Herr Bundeskanzler?“

Aber auch abseits solcher Anekdoten (für die es auch andere Erklärungen geben mag; immerhin sitzt Kurz derzeit dem EU-Rat vor, der gerade zum Brexit berät) häufen sich die Beschwerden über mangelnden Respekt der Regierung vor dem Parlament: „Dem Kanzler ist das Parlament vollkommen egal“, findet etwa Peter Pilz (Jetzt).

Keine Regierungspräsenz bei Volksbegehren

Symptomatisch für dieses Verhältnis sei nicht nur das demonstrative Desinteresse der Regierungsmannschaft an der Parlamentsarbeit – zur ersten Debatte über die Volksbegehren zu Nichtraucherschutz, Frauen und ORF-Gebühren kam kein einziges Regierungsmitglied.

Es komme auch deutlich häufiger als früher vor, dass komplexe Gesetze ohne ordentliche Begutachtung beschlossen würden – etwa das Arbeitszeitgesetz, vulgo 12-Stunden-Tag. Bei dem wurde auch eine zweite Praxis sichtbar, die man als Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament interpretieren kann: In letzter Minute wurde das Gesetz ohne Not per „Abänderungsantrag“ vier Monate früher in Kraft gesetzt als den Abgeordneten bis dahin erklärt worden war.

Gut, könnte man sagen, Beschwerden der Opposition über mangelnde Kooperation der Regierung gab es ja schon immer. „Mit Schwarz-Blau haben Missachtung und Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament eine völlig neue Dimension angenommen“, findet Nikolaus Scherak, Verfassungssprecher der Neos – der einzigen Partei, die sowohl im vorigen Nationalrat unter rot-schwarz als auch jetzt die Oppositionsrolle ausübt. „Wichtige Gesetze werden im Eilverfahren, und daher sehr unsorgfältig, durchgeboxt“, sagt Scherak; an einer Zusammenarbeit seien ÖVP und FPÖ nur interessiert, wenn sie Mehrheiten bräuchten – „und selbst da findet kein echter Dialog statt.“

Alter Vorwurf: Abgeordnete nur Abstimmungsmaschinen

Neben dem Unverständnis der Regierungsspitze für den parlamentarischen Prozess seien es auch die Abgeordneten der türkis-blauen Mehrheit und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP), die sich zu „Erfüllungsgehilfen“ der Regierung machen würden, statt eigenständig eine parlamentarische Kultur zu pflegen, sagt Leichtfried – freilich ein Vorwurf, der auch früheren Koalitionen schon gemacht worden ist.

Kurz will auf die Kritik nicht erwidern: „Wir äußern uns dazu nicht und werden weiter das Regierungsprogramm abarbeiten“, so ein Sprecher,