Herr Bundespräsident  Van der Bellen, wie sieht 100 Jahre nach der Gründung der Republik Deutsch-Österreich Ihr Bulletin für den greisen Patienten Republik Österreich aus?
Alexander Van der Bellen: Ich würde sagen, er ist kerngesund, jedenfalls verglichen mit den ersten 30 Jahren. Die Nachkriegsgeneration hat aus dieser Geschichte gelernt: Beim Reden kommen die Leut’ zusammen. Bei aller Streiterei in den vielen Wahlkämpfen haben SPÖ und ÖVP immer versucht, einen Kompromiss zu finden. Das ist tief in die österreichischen Gene eingegangen. Das finde ich auch gut.

Gibt es diesen Konsens noch?
Van der Bellen: Im Großen und Ganzen ja, das Kapital ist noch da.

Driften die Gruppen nicht immer weiter auseinander ohne sich für einander zu interessieren?
Van der Bellen: Wenn es das gibt, sollten wir alles tun, um dem entgegenzuwirken. Damit mein ich nicht nur die Politiker und die Medien, sondern auch jeden Einzelnen von uns. Vielleicht sollten wir uns alle bemühen, gerade mit dem oder derjenigen zu reden, von denen wir glauben, dass sie anderer Meinung sind. Am Land ist es ja anders, da spielt es bei Weitem nicht diese große Rolle, welcher Partei man zugehört. Da findet man eher einen Konsens als in der anonymen Stadt.

Oder gar im Netz
Van der Bellen: Dazu habe ich eine ambivalente Haltung. Natürlich sehen wir die Hassausbrüche und die unsäglichen Beleidigungen, die da unter dem Schutz der Anonymität verteilt werden. Aber auf der anderen Seite gibt es durch die direkte Kommunikation miteinander auch neue Chancen.

Sie haben in ihrer Rede zum Nationalfeiertag die Mitte als besonders österreichisch beschrieben. Wo liegt die?
Van der Bellen: Österreichisch ist als Metapher gemeint zwischen zunächst unversöhnlich erscheinenden Streitpunkten eine Lösung zu finden, mit der beide Seiten leben können.

Kompromissbereitschaft?
Van der Bellen: Ja, aber nicht die Karikatur davon, also den Kompromiss zu suchen, bevor die Streitfrage überhaupt klar ist, sondern wirklich zu versuchen, sich in die Lage des Anderen zu versetzen und dann eine gemeinsame Lösung zu suchen. Das ist unsere Stärke. Österreich hat in der Welt einen Namen, den man einem Kleinstaat zunächst nicht zutrauen würde. Das ist meine Erfahrung aus den Auslandsreisen. Wir werden als innovative Wirtschaftskraft, als verlässlicher Partner und Investor, als Kulturnation viel mehr geschätzt, als wir es vielleicht im Alltag wahrnehmen.

Dass wir den Migrationspakt der Uno nicht mittragen wollen, schadet uns das?
Van der Bellen: Es war eine Entscheidung, die ich nicht gut gefunden habe. Sie fördert das österreichische Ansehen nicht , sondern könnte – vorsichtig gesagt – falsche Zustimmung am falschen Ort erzielen. Unser übergeordnetes Interesse nicht zuletzt als einer von vier UNO-Standorten müsste doch sein, alles zu tun, diese lose internationale Gemeinschaft zu stärken und nicht zu schwächen.

Bei Kenntnis der Regierung hat es Sie gewundert?
Van der Bellen: Ich glaubte annehmen zu können, dass Österreich sich ähnlich wie die Schweiz verhalten werde: zustimmen mit verbalem Vorbehalt.

Wozu braucht man so einen deklariert unverbindlichen Pakt?
Van der Bellen: Das ist nicht ungewöhnlich für UNO-Statements, dass sie nicht unmittelbar völkerrechtlich verbindlich sind. Ich sehe darin den Versuch der Weltgemeinschaft, zu skizzieren, wie der Weg in der Zukunft ungefähr aussehen könnte, ohne dem unmittelbare Verbindlichkeit zu geben.

Das Gegenargument ist, so etwas könne de facto bald höhere Verbindlichkeit erhalten.
Van der Bellen: Das ist richtig und hat schon ein Gewicht. Ich verstehe das Argument, nur glaube ich, die Bedenken, die man hier vortragen kann, sind nicht so stark, dass man es rundweg ablehnt.

Neigen wir in Österreich in der politischen Diskussion zum Hyperventilieren? Sie scheinen manchmal eher kalmierend einzugreifen.
Van der Bellen: Meine Aufgabe ist es nicht, der Beschwichtiger der Nation zu sein, aber doch zu versuchen, alle Standpunkte zu sehen und erst dann etwas zu sagen, wenn ich glaube, jetzt ist es aber wirklich an der Zeit. Verglichen mit früheren Wahlkämpfen und Aussagen finde ich mit meiner langen Erfahrungen einiges nicht so dramatisch wie es manch andere empfinden. Was mir wichtig ist: die Notwendigkeit der Pressefreiheit in einer einigermaßen funktionierenden Demokratie ist unbestreitbar. Die sehe ich in Österreich auch nicht grundlegend gefährdet.

Auch nicht durch einen Brief eines Pressesprechers im Innenministerium?
Van der Bellen: Wenn bestimmte Medien von Informationen gezielt ausgeschlossen werden, andere hingegen nicht, dann ist das schon sehr bedenklich. Da kann ich nur sagen, da müssen wir sehr achtsam sein.

Wie entscheiden Sie, ob Sie etwas sagen oder nicht?
Van der Bellen: Natürlich mit etwas Bauchgefühl, nach Gesprächen mit meinen Kolleginnen und Kollegen hier im Haus. Es kommt auch nicht so oft vor, dass man von etwas überrascht wird. Man sieht etwas kommen und überlegt sich rechtzeitig, wie werde ich reagieren.

Wie oft sehen Sie Vertreter der Regierung?
Van der Bellen: Einigermaßen regelmäßig. Intensiv führe ich Gespräche mit Kanzler, Vizekanzler und mit der Außenministerin. Auch mit dem Innenminister, und dem Verteidigungsminister, weil der Bundespräsident eine besondere Rolle in Bezug auf das Bundesheer hat.

Wie ist Ihre Gesprächsbasis mit dem Innenminister und mit der Regierung generell?
Van der Bellen: Unter vier Augen ist sie mit allen gut und ich hoffe, die anderen sehen das auch so. Das ändert nichts daran, dass wir wissen, dass wir in bestimmten Punkten unterschiedlicher Meinung sind.

Zum Beispiel?
Van der Bellen: Der Innenminister ist der Meinung, ein negativer Asylbescheid bedeutet: abschieben. Ich bin der Meinung, es gibt Instrumente, die man prüfen kann und sollte, um die Frage des Bleiberechts zu klären, zum Beispiel für Lehrlinge.

Was antwortet er dann?
Van der Bellen: Im Wesentlichen, dass wir unterschiedlicher Meinung sind.

Was halten Sie von der Idee, die Landeshauptleute über das Bleiberecht entscheiden zu lassen?
Van der Bellen: Viel, weil ich glaube, das sind ganz unterschiedliche Dinge. Beim Asylverfahren wird überprüft, ob jemand einen Grund für einen positiven Asylbescheid hat. Beim Bleiberecht wird geprüft: wie geht es der Familie? Gehen die Kinder in die Schule? Findet ein nachvollziehbarer Integrationsprozess statt? Gibt es Deutschkenntnisse? Wenn diese Dinge vorliegen, liegt es ja im beiderseitigen Interesse, die Leute hier zu halten, weil sie ja etwas Positives beitragen werden. Und darüber weiß die Gemeinde oder der Landeshauptmann viel genauer Bescheid als jede Behörde in Wien.

Wie schätzen Sie die BVT-Affäre ein?
Van der Bellen: Im Wesentlichen ist die Aufklärung jetzt eine Aufgabe des Parlaments und das erfüllt die Aufgabe gut, soweit ich das beurteilen kann, mit mehr oder weniger offenem Ausgang.

Offen?
Van der Bellen: Im Hinblick auf die Frage, was ist im Lauf der Jahre im BVT vorgefallen, wie war die Rolle der Staatsanwaltschaft und die des Innenministeriums.

Vor der Regierungsbildung gab es eine Diskussion darüber, ob beide Sicherheitsministerien, also Inneres und Verteidigung, in der Hand einer Partei sein sollen. Nun sind sie es. War das ein Fehler?
Van der Bellen: Für mich war vor allem wichtig, dass Justiz- und Innenminister nicht in einer Hand sind. Bei hinreichend bösem Willen bestimmter Einheiten von Polizei und Staatsanwaltschaft könnte einem Bürger das Leben verdammt schwer gemacht werden. Unabhängig davon, wie das Verfahren vor Gericht ausgeht.

Woran denken Sie?
Van der Bellen: An den Tierschützerprozess. Alle sind zuletzt freigesprochen worden, es wurden aber auch bürgerliche Existenzen ruiniert. So etwas kann nur durch eine Kollusion, also fälschliche Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei passieren. Insofern war mir das sehr wichtig, die beiden Ministerien zu trennen.

Ihnen wird manchmal vorgeworfen, Sie reagierten heftiger und deutlicher, wenn FPÖ-Politiker involviert sind als bei anderen, etwa wenn Grablichter und Pflastersteine vor Häusern von ÖVP-Politikern deponiert wurden. Warum haben Sie dazu nichts gesagt?
Van der Bellen: Vielleicht habe ich das versäumt, das gebe ich schon zu. Grundsätzlich möchte ich aber sagen, es ist naheliegend, auf die, die die politische Macht innehaben, stärker hinzuschauen als auf die, die sie nicht innehaben. Das ist nun einmal die Bundesregierung.

Ausgleichende Gerechtigkeit?
Van der Bellen: Im Politischen Spiel spielt man ja nicht mit identischen Karten.

Sie haben vor der Wahl gesagt, sie würden nur einmal antreten.
Van der Bellen: Hab ich das gesagt? Das hätte ich gerne schriftlich von Ihnen.