Von den hundert Jahren, die seit der Gründung der Republik Österreich vergangen sind, entfallen mehr als 73 auf die Zweite Republik. Fast drei Viertel des Gesamtzeitraums umfasst also jene Periode, welche die längste Friedenszeit für diese Region der Welt darstellt, Jahrzehnte der Vermeidung innerer und äußerer bewaffneter Konflikte, Jahrzehnte auch des sozialen Friedens und des wachsenden Wohlstandes für den größten Teil der Bevölkerung unseres Landes.

Das erlaubt es durchaus, die Geschichte der Zweiten Republik als Erfolgsgeschichte zu lesen, als Geschichte eines Landes, das aus den Fehlern der Ersten Republik gelernt hat und sich als Kontrastprogramm zu den turbulenten und blutigen Ereignissen der Zwischenkriegszeit versteht. Ein Land, das nach Bürgerkrieg, der hausgemachten Diktatur und der Schreckensperiode des Nationalsozialismus im Inneren letztendlich auf Zusammenarbeit und im Äußeren auf Neutralität und Nichtteilnahme an Konflikten gesetzt hat. So sieht sich dieser Staat bis heute in seinem Selbstverständnis. Der 26. Oktober 1955, der Tag des Beschlusses der „immerwährenden Neutralität“, nachdem die Besatzungssoldaten abgezogen waren, steht als Nationalfeiertag symbolisch für diese Interpretation unserer Geschichte.

Aber das ist bei genauerer Betrachtung nur ein Teil des Gesamtbildes. Die Erste Republik hatte manches auch auf der Habenseite zu verbuchen. Sie brachte den österreichischen Sozialstaat hervor, gab auch den Frauen das Wahlrecht und sich selbst eine vorbildliche Verfassung und hatte in Kunst, Kultur und Wissenschaft Weltgeltung. Die Salzburger Festspiele entstanden als europäisches Leitprojekt, fast jedes zweite Jahr kam einer der Nobelpreisträger von einer der österreichischen Universitäten, die Literatur, die Musik und die Künste erlebten eine Blütezeit. Sigmund Freud, Karl Kraus, Oskar Kokoschka und viele andere Persönlichkeiten haben bis heute Weltgeltung. Mit dem Roten Wien wurde ein Modell für eine moderne Großstadt entwickelt, und erst der Nationalsozialismus zerstörte mit seiner Vertreibung und Vernichtung der österreichischen Juden und der Vertreibung der Vernunft das Geistesleben des Kleinstaates.



Der Nationalsozialismus kam aber nicht nur als eine Welle der Gewalt von außen über Österreich. Er wurzelte auch im Lande selbst, und die österreichische Demokratie wurde schon in den Jahren vor 1938 durch die Errichtung der Diktatur des österreichischen Ständestaates zerstört, der viele der Errungenschaften der demokratischen Periode als „revolutionären Schutt“ bereits beseitigt hatte.

Der blutige Bürgerkrieg von 1934 vertrieb bereits in einer ersten Welle Menschen aus unserem Land. Dennoch, erst mit dem Ende der Eigenstaatlichkeit und der Machtübernahme durch die Nazis wurde der Großteil jener Menschen, die Österreichs Bedeutung ausgemacht hatten, vertrieben oder in den Konzentrationslagern der Vernichtung preisgegeben.

Die Konsequenz, die man 1945 aus den vorangegangenen Jahren gezogen hatte, war die einer geistig-kulturellen Selbstverzwergung des wiederentstandenen Staates. Dass man die „vertriebene Vernunft“ nur zögerlich oder gar nicht zur Rückkehr aufforderte, warf das Land wissenschaftlich und kulturell weit zurück. Zudem beließ dieses Verhalten viele jener Personen in den Funktionen, in die sie wegen ihrer Nähe zum Nationalsozialismus gelangt waren.
Das Außenbild Österreichs der ersten Nachkriegsjahre war das des ersten Opfers deutscher nationalsozialistischer Aggression. Selbst war man ja harmlos, eher naiv (der Heimatfilm verstärkte dieses Klischee) und viel zu unbedeutend, um bei dem Schrecken der vorangegangenen Jahre tatsächlich eine Rolle gespielt haben zu können. Man richtete es sich in der Kleinstaaterei gemütlich ein, zog sich ins Private zurück und versuchte, die Vergangenheit zu verdrängen und das kleine Glück zu leben. Der Kleinstaat, in der Zwischenkriegszeit eher ungeliebt und als Verweigerung des nationalen Selbstbestimmungsrechts verstanden, wurde zum staatlichen (und Jahrzehnte später auch zum nationalen) Rahmen des neuen, Bescheidenheit demonstrierenden Selbstverständnisses.

Aber es gab auch die andere Realität, den tatsächlichen „Geist der Lagerstraße“, der aus der gemeinsamen Erfahrung von Verfolgung ein „Nie wieder“ entstehen ließ. Die Gegner der Zwischenkriegszeit aus der Sozialdemokratischen und der Christlichsozialen Partei fanden sich gemeinsam in Dachau wieder und dort wurde die Idee geboren, dass nur eine Überwindung der alten Gegensätze eine gedeihliche Zukunft möglich machen würde. Das war der antifaschistische Grundkonsens, der die Anfänge der Zweiten Republik politisch prägte, die Phase der Großen Koalition, anfangs unter Einbindung der Kommunisten, einleitete und über die Verstaatlichungsmaßnahmen, die Lohn-Preis-Abkommen und schließlich die Sozialpartnerschaft den sozialen Frieden und letztlich die Wohlstandsgesellschaft ermöglichte. Auch das Erringen des Staatsvertrags ist diesem gemeinsamen Bemühen zu verdanken.
Der antifaschistische Grundkonsens war ambivalent. Er entsprach dem notwendigen Bild nach außen, er schloss aber die große Gruppe der „Ehemaligen“ aus dem gemeinsamen Bild aus. Weit mehr als eine halbe Million Menschen fanden sich vorerst, bedingt durch ihre Mitgliedschaft in der NSDAP, im neuen Selbstverständnis der Zweiten Republik nicht wieder. Es war aber gerade die Abgrenzung und Unterscheidung zu Deutschland, die letztlich die eher schlampige österreichische Version der Entnazifizierung erlaubte. Schon früh setzte das Werben um das große Wählerpotenzial der „Ehemaligen“ ein, die ja nur ganz zu Beginn der Republik vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen waren. Mit unterschiedlichen Strategien – die ÖVP setzte stärker auf Integration, die SPÖ auf eine Spaltung des bürgerlichen Lagers – wurden diese Menschen an die beiden großen politischen Parteien herangeführt.

Dazu kam, dass schon die ersten Wahlen 1945 deutlich gemacht hatten, dass es in Österreich, wie auch schon in der Ersten Republik, keinen Rückhalt in der Bevölkerung für den Kommunismus gab. Die KPÖ erreichte nur 5,4 Prozent, ein Resultat, das manch konkreter Erfahrung mit den Besatzern geschuldet war, das aber auch auf den Antibolschewismus als Erbe der nationalsozialistischen Propaganda zurückgeführt werden kann. Jedenfalls war es dadurch klar: Der antikommunistische Grundkonsens war quantitativ tragfähiger als das antifaschistische Gegenmodell. So sahen sich die ehemaligen Nationalsozialisten heftig umworben, durchliefen keine demokratische Umschulung, wie sie vorerst von den Besatzern in den Reeducation-Programmen vorgesehen worden war. Die etwa 600.000 Menschen teilten sich letztlich etwa zu je einem Drittel auf die drei Parteien auf, die es neben den Kommunisten gab.
Dieses Ausbleiben einer demokratischen Umerziehung und die Abschiebung der Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus nach Deutschland, dieses augenzwinkernde Verstehen ehemaliger Codes und Verhaltensformen zeigte seine grotesken Auswüchse in den österreichischen Kriegsverbrecherprozessen. Franz Murer oder Franz Novak stehen bis heute exemplarisch für den verwaschenen, ja verlogenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit und mit dem Thema der Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich unser Land zu dieser Mitschuld bekannte.

Geopolitisch lag Österreich 1945 an einer Scheidelinie der Welten. Die vollständige Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands hatte die beiden neuen Weltmächte, die Sowjetunion und die USA, bis an eine quer durch Europa laufende Trennlinie aneinanderrücken lassen. „Eiserner Vorhang“ sollte man diese Line kurze Zeit später im beginnenden Kalten Krieg nennen. Und diese Trennlinie lief auch quer durch Österreich, sie ordnete Niederösterreich, Oberösterreich nördlich der Donau und das Burgenland der sowjetischen Einflusssphäre zu, Wien war wie Berlin eine geteilte Stadt. Dass es nicht zur langfristigen Spaltung des Landes gekommen ist, wie sie Deutschland über vier Jahrzehnte erleben musste, ist ein europäischer Sonderfall. Er erklärt sich einerseits aus der auch international ambivalenten Wahrnehmung der Rolle Österreichs in den Jahren vor 1945, anderseits aus dem Interesse der Sowjetunion, einen neutralen Keil zwischen die nördlichen und südlichen europäischen Nato-Partner zu treiben, durchaus aber auch aus dem geschickten Agieren der österreichischen Politik, die trotz mancher Differenzen im Inneren nach außen konsequent gemeinsam um diese Sonderstellung rang, die dem Land schließlich 1955 im Staatsvertrag zugestanden wurde.
Diese weltpolitische Ausnahmerolle – zwischen den Blöcken als neutraler Staat, aber mit eindeutiger Westorientierung, gepaart mit dem österreichischen Wirtschaftswunder – erlaubte es den Menschen in unserem Land, eine sichere und ökonomisch gut fundierte, kleine Lebenswelt einzurichten.

Die Not der Anfangsjahre war bald überwunden, es gab jährlich bemerkenswerte wirtschaftliche Zuwächse, was bedeutete, dass die Wiederaufbaugeneration davon ausgehen konnte, dass es die Kinder einmal besser und leichter haben sollten. Man sah sich selbst als Bewohner eines Begegnungsortes, wo selbst Kennedy und Chruschtschow miteinander sprechen konnten, wo man von den Konflikten der Weltpolitik weit entfernt war. Man konnte helfen, in der Ungarnkrise 1956 und nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968. Man war der friedliche Ruhepol in einer stürmischen Welt, Urlaubsdestination und Kulturland. Und die eigene Vergangenheit wurde verdrängt und verbarg sich unter dem Bild, dass der gemütliche Österreicher ja viel zu unbedeutend, ja sogar politisch zu unbedarft sei, um seinen Anteil am Weltgeschehen auch als Verantwortung wahrzunehmen. Die innenpolitische Lage schien lange verfestigt, die Verschiebungen bei Wahlen lagen im niedrigen Prozentbereich.

Die beiden großen Parteien hatten sich die Republik aufgeteilt. Man wusste, welcher Partei man angehören sollte oder musste, wenn es in den einzelnen Bundesländern um den Erhalt einer Wohnung, um einen guten Posten oder sonstige Vorteile ging. Das Proporzsystem ließ das Land aufgeteilt erscheinen in zwei stabile Lager, die ihre jeweils eigene Weltsicht und ihre spezifische Subkultur errichteten. Man schoss nicht mehr aufeinander wie einige Jahrzehnte zuvor, aber man war sich fremd und beäugte sich durchaus mit Misstrauen. Bis hin zu den Sport- oder Freizeitvereinen, den Automobilklubs oder den Banken, die politischen Lager hatten jeweils ihre eigenen Vereine und Institutionen. Das Dritte Lager blieb weitgehend isoliert, hatte aber, unterschiedlich von Bundesland zu Bundesland, durchaus belastbare Verbindungslinien in eine der beiden damals großen Parteien.

In den Sechzigerjahren kam langsam Dynamik in das starre System der Zweiten Republik. Alleinregierungen lösten die Große Koalition ab und Modernisierungswellen erfassten das Land. Aber selbst in dieser Phase garantierte die Sozialpartnerschaft das Gleichgewicht der Kräfte. Ihr Wirken, das die Zweite Republik eigentlich charakterisiert – weshalb das Reden von einer Dritten Republik derzeit nicht unangebracht erscheint –, sorgte zumindest seit 1950 dafür, dass Österreich exemplarisch geringe Streikminuten und hohen sozialen Frieden aufzuweisen hat. Sie sorgte für ein umfassendes soziales Netz und für eine einigermaßen gerechte Verteilung des Wohlstandszuwachses. Kein anderes europäisches Land konnte auf ein vergleichbares Konfliktvermeidungsmodell verweisen. Selbst als im Jahr 1986 und dann wieder im Jahr 2000 das Dritte Lager Teil einer Bundesregierung wurde, blieben die sozialpartnerschaftlichen Strukturen bestehen. Deren Schwächung ist allerdings derzeit ein aktueller Befund.

Das späte 20. Jahrhundert brachte dann Aufbrüche und Verwerfungen. Zuerst zwang die Affäre um Kurt Waldheim die Politik des Landes dazu, einen anderen Umgang mit der eigenen Vergangenheit zu pflegen. Dann bedeutete die Implosion des Sowjetsystems für Österreich, dass seine Sonderrolle als neutraler Staat zwischen den Blöcken verloren ging. Der Beitritt zur Europäischen Union war die logische Konsequenz, die nationalstaatlichen Grenzen und Trennlinien verloren an Bedeutung.
Aber das war nicht, wie von Francis Fukuyama prognostiziert, das „Ende der Geschichte“. Die Welt richtete sich nicht in einer aufgeklärten, den Menschenrechten verpflichteten, an einer sozialen Marktwirtschaft orientierten liberalen und toleranten Gesellschaft ein, sondern neue Widersprüche und Konfliktlinien taten und tun sich auf. Das galt und gilt im internationalen Maßstab, zeigt sich aber auch wie bei uns in den Einzelstaaten. Die Globalisierung brachte neue Gewinner und Verlierer, die neue technische Revolution überforderte viele. Offene Grenzen führten zu mobilen Gesellschaften, und neue Konflikte außerhalb Europas setzen Flüchtlingsströme in Bewegung. Viele sehen sich verunsichert, ja überfordert. Die über Jahrzehnte anhaltende Gewissheit der stetigen Verbesserung bekam und bekommt erkennbare Risse.

Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sind groß. Die Rückversicherung durch den Blick auf eine doch insgesamt erfolgreiche Geschichte der letzten gut sieben Jahrzehnte sollte aber das Vertrauen stärken, dass auch die kommenden Generationen ihre Rezepte zur Problembewältigung finden werden. Und dies sollten Rezepte sein, die die Menschenrechte als Richtschnur haben.