Herr Dr. Fischer, Sie sind nächste Woche 80 und man merkt es Ihnen nicht an. Haben Sie einen Geheimtipp?

HEINZ FISCHER: Nein, ich habe keinen Geheimtipp. Die Konstitution spielt wahrscheinlich eine Rolle. Meine Eltern haben sehr gesund gelebt und mein Vater ist 94 geworden. Außerdem habe ich zeit meines Lebens viel Bewegung gemacht. Ich brauche viel Schlaf im Verhältnis zu anderen in der Politik Tätigen. Ich habe meinen Wecker auf halb sieben gestellt und gehe fast immer vor elf schlafen. Ich rauche keine Zigaretten und habe meinen ersten Schluck Alkohol mit etwa 30 Jahren getrunken.

Sie wollten selbst Anwalt werden, sind dann in die Politik hineingeraten. Hat Sie diese Entscheidung je gereut?

FISCHER: Nein. Ich bin eigentlich immer ohne wirkliche Verletzungen durch das politische Leben gekommen, bin im Großen und Ganzen fair behandelt worden und habe auch versucht, andere fair zu behandeln. Mir ist die Arbeit wie ein Hobby vorgekommen.

Wären Sie gerne einmal Bundeskanzler gewesen?

FISCHER: Ich habe großen Respekt vor dem Amt des Bundeskanzlers, weil ich gesehen habe, wie schwierig es ist und wie nahe oft das Hosianna und das Crucifige beisammenliegen. Ich war froh, dass das nicht an mich herangetragen wurde. Ich war sehr gerne Klubobmann, Nationalratspräsident und Bundespräsident.

Nächste Woche jährt sich der Todestag von Jörg Haider zum zehnten Mal. Wie schätzten Sie ihn ein?

FISCHER: Mein erster Eindruck in den 70er-Jahren war, das ist einer aus der liberaleren Garde der FPÖ. Er hat sich sehr für Sozialpolitik interessiert und schien von der Vergangenheit ziemlich unbelastet. Aber er hat sich sehr geändert, als die Kärntner FPÖ zur Basis seines Aufstiegs wurde. Jörg Haider war ein intelligenter, einfallsreicher, ziemlich rücksichtsloser Politiker und er war zugleich der Pionier des nationalen Rechtspopulismus in Österreich.

Wie fällt Ihr Vergleich aus zwischen der Regierung Schüssel/Haider und nun Türkis-Blau?

FISCHER: Eine Besonderheit der Regierung Schüssel war, dass die drittstärkste Partei den Bundeskanzler stellte, nachdem vorher gesagt worden war: Wenn wir nur Dritte werden, gehen wir in Opposition. Das Thema Flüchtlinge und Ausländer hat seit der Regierung Schüssel noch viel größere Relevanz in der politischen Diskussion bekommen. Schüssel hat die Verbindung zur Opposition nie abreißen lassen, wie es die jetzige Regierung tut. Auch gab es damals in Europa keine Orbáns und Salvinis.

Es ist das Migrationsthema, das diese Bewegungen begünstigt. Verstehen Sie das Unbehagen der Leute? Oder die Probleme mit muslimischen Schülern, die Susanne Wiesinger aus ihrer Wiener Schule berichtet?

FISCHER: Ich verstehe das Unbehagen sehr gut. Aber die Frage ist doch: Soll ich dieses Unbehagen zuspitzen und politisch orchestrieren? Oder soll ich versuchen, es sachlich zu behandeln und nach menschlichen Lösungen zu suchen? Ich mache bestimmt keiner Lehrerin Vorwürfe, die bedrückt ist, weil sich die Probleme in ihrer Klasse verdreifacht haben. Ich mache jene verantwortlich, die alles tun, um Flüchtlinge in eine Ghetto-Situation zu drängen und das Minimum an Lebensunterhalt so zu reduzieren, dass sich die Situation dadurch nur verschärfen kann. Es geht nicht um Vorwürfe an den Bürger, sondern an diejenigen, die sich anders verhalten, als sich die Österreicher gegenüber den Flüchtlingsbewegungen im 20. Jahrhundert verhalten haben.

Ungarn und Tschechen haben mit uns in einem Staat gelebt, das ist leichter als mit Afghanen.

FISCHER: Da haben Sie recht, aber darf ich deshalb sagen: Es gibt zwar den Grundsatz, dass die Menschenwürde für alle gleich ist, aber wir meinen natürlich nur die, die in unserem Kulturkreis wohnen, und für die anderen gilt das alles nicht? Darf ich das sagen, parteipolitisch zuspitzen und ins Feuer blasen, anstatt um gute Lösungen bemüht zu sein?

Teilen Sie Frau Wiesingers Eindruck, dass die sonst religionskritische Linke gegenüber dem Islam sehr tolerant ist?

FISCHER: Nicht toleranter als die katholische Kirche.

Der Vorwurf Susanne Wiesingers war, dass die SPÖ Integrationsprobleme totschweigt aus Sorge, damit rechten Parteien zuzuarbeiten. Ist da etwas dran?

FISCHER: Ich glaube nicht, dass man sagen kann, Fehler sind nur auf der rechten gemacht worden und bei der linken Seite ist alles richtig gewesen. Was mich besorgt macht, ist, dass Werte, die wir an hohen Feiertagen beschwören, schlecht oder überhaupt nicht angewendet werden, wenn man damit zulasten von Flüchtlingen Punkte sammeln kann. Da wäre es notwendig, die Taktik beiseitezulegen und Haltung zu zeigen.

Was halten Sie vom SPÖ-Migrationspapier, das viele Regierungspositionen übernimmt?

FISCHER: Ich fürchte, ich habe mich nicht gut genug ausgedrückt: Es geht mir nicht um Paragrafen und Formulierungen, um Einzelheiten. Es geht um eine Gesinnung. Ich lehne es ab, parteitaktische Spielchen auf dem Rücken dieser Menschen zu spielen. Wenn Sozialdemokraten dagegen verstoßen, dann bin ich genauso wenig einverstanden, wie wenn das jemand mit einer anderen politischen Orientierung tut.

Sie klingen nicht sehr begeistert vom Migrationspapier.

FISCHER: Es geht um ein Problem und nicht um Papiere.

Ein Staat muss doch Zuwanderung begrenzen können?

FISCHER: Da haben Sie recht. Aber wenn zumutbare Grenzen überschritten werden – im Augenblick ist das nicht der Fall –, muss ich eben auf andere Weise versuchen, Hilfe zu leisten, und zum Beispiel Länder wie Jordanien oder den Libanon unterstützen, die in Bezug auf ihre Bevölkerung zwanzig Mal so viele Flüchtlinge haben wie wir.

In Ihrem jüngsten Buch haben Sie kritisiert, wie Sebastian Kurz Reinhold Mitterlehner aus dem Amt gedrängt hat. War das anders als die Entfernung von Alfred Gusenbauer durch Werner Faymann oder jene Faymanns durch Kern?

FISCHER: Manchmal geht es in der Politik sehr rau zu. Mir hat das nie gefallen. Ich habe glücklicherweise auch immer wieder Leute getroffen, die das so sehen wie ich. Im konkreten Fall bin ich vielleicht auch von der Tatsache beeinflusst, dass ich Mitterlehner als einen persönlichen Freund betrachte.

Erstmals steht nun eine Frau an der Spitze der Sozialdemokratie. Wieso so spät in einer Partei, die sich die Frauenemanzipation auf die Fahnen geschrieben hat?

FISCHER: Sie haben recht, es hat lange gedauert. In der ÖVP ist aber bis heute nie eine Frau an der Spitze gestanden, in Amerika war noch nie eine Frau Präsidentin, in Deutschland, in Italien und in vielen anderen Ländern auch nicht. In Österreich ist jetzt erstmals eine Frau Vorsitzende der SPÖ und ich finde, das ist eine gute und zukunftsweisende Entscheidung. Pamela Rendi-Wagner hat viele wichtige Eigenschaften für eine solche Funktion, und das ist eine Bereicherung für die österreichische Politik.

Wie haben Sie die letzten Wochen als Sozialdemokrat erlebt?

FISCHER: Es waren schwierige Wochen. Aber für Details müssen Sie jemanden fragen, der aktiv in der Politik steht.

Was denkt der Sozialdemokrat Heinz Fischer?

FISCHER: Der denkt sich, dass die österreichische und europäische Sozialdemokratie in ihrer Geschichte immer wieder schwierige Zeiten erlebt hat, aber auch immer wieder überwunden hat. Der Wechsel an der Spitze eines Landes ist für die Demokratie, so bitter er im Einzelfall sein mag, systemgerecht. Es wäre nicht gut, wenn es in Österreich seit 1945 nur ÖVP- oder nur SPÖ-Kanzler gegeben hätte.

Können Sie sich einen FPÖ-Kanzler vorstellen?

FISCHER: Derzeit nicht. Es wäre ein Kanzler aus den Reihen der drittstärksten Partei des Landes, die im Europäischen Parlament mitten in der rechtsnationalen Fraktion sitzt. Man muss sich auch anschauen, wie sich einzelne Politiker dieser Partei in der Regierungsverantwortung verhalten, wie sie mit Medien und dem Rechtsstaat umgehen.

Haben Sie die Aufregung um die Außenministerin und ihren Hochzeitsgast verstanden?

FISCHER: Ich habe mich nicht aufgeregt.

Regen Sie sich auf über die Aufregung?

FISCHER: Auch nicht, aber ich finde, dass ein Land wie Russland ein Gesprächspartner für Österreich sein muss. Ich werde einer Außenministerin des Jahres 2018 keinen Vorwurf machen, wenn sie sich um gute Beziehungen zu Russland bemüht. Ich gebe jetzt kein Urteil über die gesamte Außenpolitik ab, aber an der österreichischen Russland-Politik habe ich nichts zu kritisieren.