Ex-Bundeskanzler Christian Kern will als Spitzenkandidat der SPÖ in die EU-Wahl am 26. Mai 2019 ziehen und "spätestens nach der Wahl" die Parteiführung niederlegen. Das erklärte Kern in einem kurzen Pressestatement vor Sitzung der SPÖ-Gremien gestern Abend.

Diese Erklärung war für 18 Uhr angekündigt worden, danach traf sich Kern mit den Landesparteiobleuten - erstens, um sie überhaupt erst einmal in Kenntnis zu setzen von seinem Entschluss, und zweitens, um über die Nachfolge zu beraten.

Um 21 Uhr verkündete Parteigeschäftsführer Max Lercher, über diese Nachfolge werde noch heuer entschieden. Der Parteitag werde allerdings von Oktober auf November verschoben.

Und die Gremien würden Kern schon am Mittwoch als Spitzenkandidaten für die EU-Wahl nominieren, die SPÖ-Spitzen hätten "einhellig" einen entsprechenden Vorschlag vorbereitet. Das SPÖ-Präsidium tagt ab 10 Uhr, der Vorstand ab 12 Uhr.

Lercher war von der Entscheidung ebenso überrascht worden wie alle anderen SPÖ-Granden. Gegenüber der Presse erklärte er, wegen der Zusammenkunft der sozialdemokratischen Parteien Europas am Mittwoch in Salzburg habe Zeitdruck bestanden. Dies deutet darauf hin, dass Kern auch als europäischer Spitzenkandidat der Sozialdemokraten in Erwägung gezogen wird.

Aus Parteikreisen war zuvor zu hören, dass Peter Kaiser übergangsweise die Parteiführung übernehmen soll; Kaiser selbst dementiert das im Gespräch mit der Kleinen Zeitung: Er habe selbst so kurzfristig von der Sitzung erfahren und heute Abend einen unverschiebbaren Termin in Kärnten. Er habe auch nicht vor, die Parteiführung zu übernehmen, "ich habe kein Mandat in Wien", eine "Fernbeziehung" sei nicht sinnvoll, so der Landeshauptmann.

Das zeugt davon, dass diese Art von Abgang und Übergabe nicht  geplant war. Parteimitglieder auch höchsten Ranges waren schlicht fassungslos. Hinter dem Entschluss Kerns scheint eben ein Ansinnen aus den Reihen der Europäischen Sozialdemokraten zu stehen, ihn an der Spitze der europäischen Fraktion zu kandidieren.

Spekulationen, Kern könnte als Gegenkandidat zum konservativen Kandidaten Manfred Weber ins Rennen um das Amt des Kommissionspräsidenten gehen, hatten schon am Nachmittag die Runde gemacht:

Selbst wenn es mit dem Kommissionspräsidenten nichts werden sollte. positioniert sich Kern damit als Ex-Premier ganz vorne für die EU-Topjobs, die 2019 nach der Europawahl vergeben werden.

Die Überraschung war groß - auch in den eigenen Reihen, und die Reaktionen respektvoll bis skeptisch:

Keine Einladung, keine Information

Es gibt zur Stunde noch keine offizielle "Einladung" der europäischen Fraktion. Und zweitens gibt es formal auch keine europäische Liste, sondern Kern muss zu diesem Behufe prominent auf der österreichischen SPÖ-Liste für die Europa-Wahl kandidieren. Dass er diesen Wunsch äußerte und gleich auch den Parteivorsitz abgeben wollte, ohne mit den Spitzenfunktionären der SPÖ zuvor darüber überhaupt gesprochen zu haben, ist, gelinde gesagt, ungewöhnlich.

Eingeweiht in diese Aktion waren dem Vernehmen nach aber tatsächlich weder seine Stellvertreter, noch die Landesparteichefs noch der Parteigeschäftsführer. Und schon gar nicht Vorstand oder Präsidium.

Im Kampf gegen die "Abrissbirne"

Kern begründete seinen Alleingang mit dem Handlungsbedarf vor einer sehr wichtigen Schlacht: "Das Konzept einer liberalen, weltoffenen Demokratie ist massiv herausgefordert", das hätten letzte Woche "die Orbans, die Salvinis, die Straches und die Kaczyńskis" einmal mehr gezeigt. Wenn hier Menschen mit der Abrissbirne gegen Europa agierten, dann müsse man dafür sorgen, dass das europäische Erbe bewahrt bleibe, dass Europa "ein leuchtender Ort auf einem Hügel bleibt und nicht im nationalistischen Sumpf versinkt", fand Kern blumige Worte.

"Ich habe Österreich im EU-Rat vertreten, und ich habe mich jetzt entschlossen, an der Spitze der SPÖ bei der Wahl anzutreten", so Kern. Man müsse sich nun an einem neuen politischen Ziel ausrichten. "Die Wahl ist von erheblicher Bedeutung, nicht nur für uns sondern im europäischen Maßstab."

Dass Kern selbst Spitzenkandidat werden könnte,  hatte der Ex-Kanzler noch im ORF-Sommergespräch Anfang September zurückgewiesen und als "totalen Mumpitz" bezeichnet.

Kürzester Kanzler und SP-Chef

Im Kleine Zeitung-Interview vergangene Woche hatte Kern noch festgehalten, es gehe ja nicht darum, Umfragen zu gewinnen und keine Anzeichen von Amtsmüdigkeit als Parteichef gezeigt. 

Der vormalige ÖBB-Chef stand nicht ganz zweieinhalb Jahre an der Spitze der SPÖ,  der kürzestdienende Parteichef und Kanzler Österreichs. nachdem sein Vorgänger Werner Faymann im Mai 2016 unter Unmutsbekundungen seiner Parteifreunde zurückgetreten war. Nach einem halben Jahr politischer Lähmung durch die Bundespräsidentenwahl-Wiederholung scheiterte die Regierung Kern nach rund einem Jahr im Amt am Rücktritt Reinhold Mitterlehners an der Spitze der ÖVP und der Machtübernahme Sebastian Kurz'.

Bei der Nationalratswahl 2017 konnte Kern die SPÖ stabil bei rund 27 Prozent der Stimmen halten, verlor aber Platz eins an die ÖVP - und damit auch die Kanzlerschaft an Sebastian Kurz.

Ankündigung, Kanzleramt zurückzuerobern

Gebetsmühlenartig hat seit damals erklärt, das Kanzleramt zurückerobern zu wollen. Erst vergangene Woche hatte sich der lange erfolgsverwöhnte Manager von den Parteigremien als einziger Kandidat für den Vorsitz beim kommenden Parteitag designieren lassen - der in rund drei Wochen stattfinden soll.

Auch wenn Kern, der aus finanzschwachen Verhältnissen in Wien-Simmering stammt, jung Vater wurde und nach einem kurzen Intermezzo bei einer grünen Bewegung an die SPÖ andockte, das Politgeschäft früh unter SPÖ-Klubobmann Peter Kostelka als dessen Sprecher und Bürochef gelernt hatte, unterschätzte er wohl den Alltag als Regierungschef. Umgeben von einer Quereinsteiger-Truppe mit ähnlichem Karriere-Verlauf wie seinem eigenen tat man sich schwer gegen die professionelle Truppe der ÖVP.

Dies galt auch für den Chef selbst, der so manchen inhaltlichen wie taktischen Fehler einstreute - etwa als er die Partei mit einer CETA-Befragung aufmunitionierte, um dann erst dem Druck der EU nachzugeben. Auch sein Personal konnte nicht unbedingt reüssieren, die Silberstein-Affäre tat ihr übriges, Kern nicht den Ruf eines genialen Personalchefs umzuhängen.

Kein Oppositionsführer

Als Oppositionschef wurden Kern medial großteils negative Zensuren ausgestellt, auch wenn er sich redlich bemühte, schnell wieder in die Offensive zu kommen. Angesichts von Türkis-Blau schoss er in seiner Kritik wohl das ein oder andere Mal übers Ziel, etwa als er ÖVP und FPÖ mit Besoffenen verglich. Die Themenführerschaft zu übernehmen gelang ihm zu selten. Immerhin hat er mit dem neuen Parteiprogramm der SPÖ etwas hinterlassen, dazu noch eine Statutenreform, die den Mitgliedern ein wenig mehr Mitsprache gönnt.

Allzu viele Tränen nachweinen wird man Kern als Parteichef wohl trotzdem nicht. Mit der Wahlniederlage hatten viele das Grundvertrauen in seine Fähigkeiten verloren. Kaum jemand glaubte noch daran, mit dem immer ein wenig distanziert wirkenden Alt-Kanzler wieder den Ballhausplatz erobern zu können. Zu guter Letzt kam es noch zum Konflikt auf offener Bühne mit dem burgenländischen Vorsitzenden Hans Peter Doskozil (SPÖ) über die Ausrichtung der Partei. Es wäre wohl nicht der letzte geblieben.