Die Sozialversicherungsreform kommt bei der Wirtschaft gut an, NEOS und Liste Pilz sehen darin eine reine Umfärbungsaktion und die SPÖ ortet eine "schleichende Privatisierung der Gesundheit". Die Ärztekammer forderte eine Einbindung bei der Ausarbeitung der Reform.

Die schärfste Reaktion kommt erwartungsgemäß von  Arbeiterkammer und ÖGB: "Das ist ein Fusions-Fiasko, mit dem das Gesundheitssystem an die Wand gefahren wird. Setzen, Fünf", richtete AK-Präsidentin Renate Anderl Türkis-Blau bei einer Pressekonferenz in Innsbruck aus. Mögliche Streikmaßnahmen seien "immer eine Option", so Anderl. 

Man habe bereits ein "Gremium zusammengesetzt", das weitere Schritte beraten werde, erklärte die Arbeiterkammerchefin. Sie machte allerdings klar, dass man das Gesetz zunächst einer genauen Analyse unterziehen werde. In der Begutachtungsphase werde man versuchen, der Reform noch die "Giftzähne" zu ziehen, so Anderl.

"Beitragsprüfung hilft Wirtschaft"

Anderl und Tirols schwarzer AK-Chef und Bundesarbeiterkammer-Vize Erwin Zangerl, mit dem sie gemeinsam die Pressekonferenz bestritt, orteten zudem verfassungsrechtliche Bedenken bei der Reform. Als Beispiel für eine solche Nichtverfassungskonformität nannte Anderl, dass die Beitragsprüfung nun den Finanzämtern zufalle. Dies helfe zudem der Wirtschaft, schade den Versicherten und könne finanziell negative Auswirkungen bis hin zur Pension haben.

Wo man verfassungsrechtlich ein Problem sehe, werde man "weitere Schritte" überlegen, so Zangerl, der sich Streikmaßnahmen zwar nicht wünscht, aber meinte: "Irgendwann wird so etwas notwendig sein müssen".

Anderl und Zangerl sparten in dem Pressegespräch nicht mit Frontalangriffen auf die Regierung. "Das wird ein Riesen-Moloch geschaffen. Die Regierung fährt wieder einmal über die Anliegen der Arbeitnehmer drüber, wenn das so beschlossen wird. Das war eine Husch-Pfusch-Aktion", meinte Anderl. Sie erwartete Einbußen bei der Versorgungsqualität durch die "Zwangsfusion" der neun Gebietskrankenkassen zu einer Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) in nur neun Monaten.

"Es geht um Macht, Geld und Einfluss"

Zangerl polterte über eine Enteignung in "unglaublichem Ausmaß". "Es geht um Macht, Geld und Einfluss. Im Vordergrund stehen parteipolitische Interessen. Diese Damen und Herren fahren ohne Sicherheitsgurt", so Tirols AK-Chef, bekanntermaßen stets ein vehementer Kritiker von Türkis-Blau. Es sei unglaublich, dass sich "die Mehrheit vor einer Minderheit verteidigen muss". Die Regierung sei nicht nur über die Arbeitnehmervertreter drübergefahren, sondern auch über die Länder.

An die schwarzen Tiroler ÖVP-Nationalräte appellierte er, sich genau zu überlegen, ob sie der Reform letztlich zustimmen. Schließlich seien Volksvertreter nicht dazu da, immer nur "die Hand zu heben".

Der Gewerkschaftsbund sieht nach dem 12-Stunden-Tag den nächsten Angriff auf die Arbeitnehmer durch die Regierung. ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian sprach bei einer Pressekonferenz am Freitag von einem "Raubzug" und "Katastrophe" für die Arbeitnehmer und kündigte Widerstand auf allen Ebenen an. 

"Machtfülle, die der Wirtschaft nicht zusteht"

Katzian warnte vor einer "drittklassigen Medizin" für sieben Millionen Versicherte. Öffentlich Bedienstete, Selbstständige und Unternehmer behalten ihre eigenen Versicherungen mit besseren Leistungen, währen der dritten und größten Gruppe der Arbeitnehmer, Pensionisten und deren Angehörigen das Geld entzogen werde. Über die Arbeitnehmer entscheiden künftig nicht wie bisher Repräsentanten der Arbeitnehmer, sondern die Wirtschaft, weil diese die Mehrheit in den Gremien bekomme.

"Die Wirtschaft erhält eine Machtfülle über die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihr so nicht zusteht." Das werde zu Selbstbehalten und Privatisierungen führen, "das wissen wir, weil wir die Programme jener, die jetzt die Macht bekommen, kennen", warnte Katzian und sprach von einem "Raubzug". Zudem würden sogenannte schlechte Risiken wie Arbeitslose, Mindestsicherungsbezieher und Flüchtlinge in der Sozialversicherung von den Arbeitnehmern allein geschultert, Beamte, Unternehmer und Selbstständige zahlen hier nicht mit. "Mir fehlen die Worte, ich will nicht ausfällig werden", zeigte sich Katzian erbost.

"Effizienz gesichert"

Wenig überraschend fällt die Reaktion der Wirtschaft, die ja durch die Reform mehr Macht in den Gremien bekommt, sehr positiv aus. Wirtschaftskammer-Generalsekretär Karlheinz Kopf sieht durch das Vorhaben "das hohe Leistungsniveau für alle Versicherten langfristig gesichert", eine Effizienzsteigerung und die Selbstverwaltung gewahrt. "Die im Gesetzesentwurf vorgesehene Parität zwischen Dienstnehmer- und Dienstgebervertretern entspricht einer langjährigen Forderung der Wirtschaft und sorgt für eine dem Finanzierungsbeitrag entsprechend gerechte Besetzung der Selbstverwaltungskörper in den Sozialversicherungsträgern", so Kopf.

Die Grüne Wirtschaft begrüßte die Zusammenlegung der Sozialversicherungen als "Schritt in die richtige Richtung". Sabine Jungwirth, Bundessprecherin der Grünen Wirtschaft, findet es aber "bedauerlich, dass die berufsständische Aufteilung weiter erhalten bleibt". Diese "Standesdünkel sind nicht zeitgemäß". Sie kritisierte zudem die Selbstbehalte für Selbstständige.

Die Ärztekammer begrüßte die Weiterentwicklung des Sozialversicherungssystems, solange sie bessere Rahmenbedingungen für Ärzte und Patienten bedeutet. Die bevorstehende Kassenreform könne optimal genützt werden, um die im Regierungsprogramm festgehaltene Stärkung des niedergelassenen Bereichs vorzunehmen. "Wir erwarten uns einen modernen Leistungskatalog, der für alle Patienten in Österreich gleich ist und gleichzeitig den Bundesländern Platz für regionale Anpassungen bietet", so die Ärzteschaft, die eine Einbindung in die Kassenreform forderte.

"Ein schwarzer Tag"

SPÖ-Gesundheitssprecherin Pamela Rendi-Wagner sprach von einem "schwarzen Tag für die Gesundheit der Österreicher" und einem "Angriff auf unser Gesundheitssystem", bei dem es nur darum gehe, "500 Millionen Euro aus der Gesundheitsversorgung der Menschen herauszunehmen, um sie Großunternehmen und Konzernen zu schenken". Künftig würden Großkonzerne das Sagen in den Krankenkassen haben und das würde zu Selbstbehalten bei Arztbesuchen, bei Spitalsaufenthalten und weniger Medikamenten führen. "Das ist der Startschuss für eine schleichende Privatisierung unseres solidarischen Gesundheitssystems", so Rendi-Wagner.

NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker sieht in der Reform eine versteckte Umfärbeaktion der Regierung. "Hier ist der Reform sehr klar und lässt tatsächlich nur wenig Fragen offen." Die bisher "rote" VAEB werde in die schwarze BVA eingegliedert, die roten Krankenkassen und die rote PV würden dank der 50:50 Parität von Arbeitnehmern und Arbeitgebern mehrheitlich schwarz. Und AUVA, SVA und SVB blieben fest in ÖVP-Hand. "Bleibt die Frage, was bringt das den Patienten? Wenig, bis nichts", so Loacker.

Kritisch bewertet auch Daniela Holzinger, Gesundheitssprecherin der Liste Pilz, die Reformvorschläge der Regierung. Die Reform führe eindeutig zu einer Schwächung der Selbstverwaltung. Mit dem Eingriff in die Stimmenverhältnisse zulasten der Arbeitnehmer, sowie drastisch verkürzter Funktionsperioden, sei künftig keine Selbstverwaltung im eigentlichen Sinne mehr möglich, so Holzinger, die wie Loacker auch die angekündigten Einsparungen von einer Milliarde Euro in drei Jahren anzweifelt.