Die einen sprechen von großer Reform, Kritiker von einem Reförmchen – was erwarten Sie von der Bildungsreform, die am heutigen Dienstag von der Bildungsministerin präsentiert wird?
STEFAN HOPMANN: Ich werde mir kein Urteil anmaßen über ein Papier, das ich noch nicht kenne. Das Startpapier, das damals vorgelegt worden ist, war ja nicht schlecht. Ob das jetzt über- oder unterboten wird, ist ja eine Frage des politischen Prozesses. Die Frage ist, ob das der große Wurf wird oder doch nur ein Eigentor.

Der gelernte Österreicher vermutet, dass es schwierig werden könnte.
HOPMANN: Ja, das Problem ist typisch hierzulande: Wenn es darum geht, Macht abzugeben, Kompetenz umzuverteilen, Dinge zuzulassen, bleibt das oft Rhetorik, denn das fällt den Beteiligten schwer. Wenn es darum geht, neue Kontrollstrukturen aufzubauen, Mechanismen, Instanzen oder Institutionen zu erfinden, das geht leicht. Das ist auch leichter konsensfähig. Dazu kommt zum einen der Kostenaspekt. Beim bestehenden Bildungsbudget und seinen Defiziten muss sich so eine Reform ja quasi selber finanzieren. Das begrenzt den Spielraum enorm. Zum anderen verlangen bestimmte Maßnahmen eine qualifizierte Mehrheit. Soweit ich weiß, gibt es weder eine finanzielle noch eine politische Abklärung.

Spielt denn Ihrer Meinung nach in Österreich zu viel Politik in die Schule hinein?
HOPMANN: Ich habe anders als andere zunächst einmal kein Problem damit, dass alle wesentlichen Entscheidungen in einer Demokratie politischer Natur sind. Schule ist ja nun einmal mit den Spitälern die teuerste und wichtigste gesellschaftliche Investition. Und es wäre keine Demokratie, wenn die Politik da nicht ein erhebliches Wort mitreden soll. Etwas ganz anderes ist, dass wir aus dieser seit Maria Theresia historisch gewachsenen Schul- und Verwaltungsstruktur sehr oft politische Einmischung an Stellen haben, wo sie nicht hingehört.

Wo gehört sie denn nicht hin?
HOPMANN: Bei der Schulleiterbesetzung, der Frage, was gut für eine örtliche Schule ist und so weiter, da wird sie problematisch. Aber man muss aufpassen mit dem Pauschalurteil, die Politik müsse raus aus der Schule. Ich finde das schwedische Modell genial. Die haben die gesamte Verwaltungstätigkeit für Schule in eine eigene Behörde ausgelagert. Die Politik hat dort nur in zwei Formen Zugriff: zum einen bei Budgetverhandlungen und Gesetzen und zum anderen alle zehn Jahre bei der Besetzung des neuen Leiters. Ansonsten – innerhalb eines Handlungsrahmens – machen die Professionellen und die Beteiligten die Musik.

Haben in Österreich die Falschen zu viel Macht im Bildungssystem, etwa Landeshauptleute, Lehrergewerkschafter etc.?
HOPMANN: Auch Ministerin und Ministerbüros . . . Nein, wieder: Es ist ein Problem, wie man das interpretiert und aufstellt. Ich habe Probleme mit diesen Pauschalurteilen, dass die Genannten zu viel Macht hätten. Denn warum haben sie Macht? Ja auch zum Teil dadurch, dass Österreich so konstruiert ist, dass alle wesentlichen Entscheidungen von oben nach unten verlaufen, aus historischen Gründen. Das führt dazu, dass es in jeder Etappe dieses Top-down-Prozesses ein Patchwork von Interessensgruppen gibt. Dazu taucht auf jeder Ebene noch ein Filter auf, der provoziert, modifiziert, umstößt, abschlägt und ausbessert. Es gibt einen Beschluss und schon am nächsten Tag folgen Pressekonferenzen, die diesen exakt gegensätzlich interpretieren. Sie könnten heute keinen Betrieb und keine andere soziale Institution mehr so führen.

Womit wir beim Thema der Verwaltungsreform sind. Da wird ja gestritten, wer für die Lehrerverwaltung zuständig sein solle und wo man einsparen könne. Ist das wirklich ein Thema, mit dem Bildungschancen der Kinder verbessert werden können?
HOPMANN: Die Bildungschancen der Kinder werden vor Ort entschieden. Punkt, aus. Das mache ich nicht durch Verwaltungsreformen oder Schulstrukturreformen, sondern es ist eine konkrete Frage nach der Qualität, Organisation und Durchführung von Schule vor Ort. Und die muss unterschiedlich sein, je nachdem welche Kinder es gibt, welche Eltern, welches soziale Umfeld, welches Kollegium und so weiter. Das ist das zentrale Problem, und das geht halt in einem Top-down-Modell schlecht. Weil man da im Prinzip ja allen dasselbe zumutet und abverlangt.

Das Herzstück der Bildungsreform dürfte die Ausweitung der Schulautonomie sein, der einzige Punkt im Reformpapier, bei dem Einigkeit zu herrschen scheint . . .
HOPMANN: Das hoffen wir mal, ich glaub’s aber nicht.

Grundsätzlich kann man aus Ihren Antworten aber heraushören, dass mehr Autonomie doch etwas bewirken kann.
HOPMANN: Ja, natürlich. Aber man kann doch nicht ein bisschen schwanger sein, oder? Die Frage ist, ob man den Leuten wirklich substanzielle Personal-, Budget- und vor allem organisatorische Autonomie gibt. Wenn ich höre, dass ich als Direktor zum Beispiel bei der Auswahl der Lehrer vielleicht mitwirken darf, aber immer noch nicht deren richtiger Chef bin – dann heißt das, Personalautonomie findet nicht statt. Und dann spielt es keine Rolle, wann ich den Unterricht beginnen lassen kann oder ob ich ein Fach zusätzlich erfinde. Der Punkt ist, ob ich die Möglichkeit habe, Schule vor Ort so zu gestalten, wie die Kinder, die ich nun einmal habe, es brauchen.

Kann Österreich beim Thema echte Schulautonomie von andern Ländern lernen?
HOPMANN: Wenn man überhaupt etwas von Finnland, Kanada oder Holland lernen kann, dann genau das. Die Kanadier haben ihre Schulreform auch damit angefangen, dass sie wesentliche Entscheidungsbefugnisse vor Ort geschaufelt haben. Und das möchte ich sehen, dass das am Dienstag auch in Wien geschieht.

Bund und Länder müssten dafür Macht abgeben, was ihnen schwerfallen wird.
HOPMANN: Ja. Aber ich muss mich eben am Standort entscheiden können, was ich brauche. Brauche ich zwei, drei Lehrer weniger und hol mir für dasselbe Geld mehrere Assistenten, um häufiger mit Arbeitsgruppen arbeiten zu können? Oder mache ich lieber einen Schwerpunkt, um ein besseres Schulklima zu bekommen? Ich muss das bewegen können.

Wenn man über die Grenzen schaut, nach Skandinavien oder Kanada: Warum gehen Bildungsreformen anderswo einfacher vonstatten als in Österreich?
HOPMANN: Das hat historische Gründe. Es hat viel damit zu tun, dass sich im hart katholischen Europa Schule im Wesentlichen von oben nach unten durchgesetzt hat, Mittel der Gegenreformation war und sehr stark ein Staatsschulsystem. Wenn ich in diese Länder – Finnland etwa – gehe, werde ich feststellen, dass Schule dort sehr oft lokal hochgewachsen ist. Finnland ist ja überhaupt erst vor hundert Jahren selbstständig geworden. Bis dahin waren sie schwedisch und russisch. Das Einzige, wo sie finnisch sein durften, war in der Kirche und in der Schule.

Welche Folgen hatte das für das finnische Schulsystem?
HOPMANN: Sie haben den Raum lokal genutzt. Wenn die Schule nach wie vor der wichtigste Ort in der Gemeinde ist, habe ich ein ganz anderes Verhältnis dazu, als wenn das eine exterritoriale Filiale einer fernen Macht ist.

Bei all den negativen Berichten, die auftauchen, kann man den Eindruck bekommen, das Schulsystem in Österreich stehe am Rande des Abgrunds. Aber ist es nicht eigentlich so, dass es ganz gut funktioniert – wenn auch mit Macken?
HOPMANN: Natürlich, es ist Leiden auf hohem Niveau. Pisa-Ergebnisse sind Quatsch und nichtssagend in dem Zusammenhang. Wenn ich mir anschaue, wie viele Kinder und Jugendliche es schaffen, eine Schulbildung oder Lehre oder sonst was abzuschließen, gehört Österreich zu den Top 5 in Europa. Wir sind in vielerlei Hinsicht, vor allem auch wegen dieses herrlich differenzierten und chaotischen berufsbildenden Bereichs, recht gut aufgestellt. Darum beneiden uns die anderen sogar. Ich sage nur immer ironisch: Österreich funktioniert trotzdem, nicht deswegen. Trotz all dieser Vorgaben und Regeln gelingt es den Beteiligten vor Ort sehr oft, vernünftige Lösungen zu finden.

Das klingt jetzt sehr positiv.
HOPMANN: Ja, aber wo wir langsam ein Problem kriegen, ist zum einen eine wachsende Zahl junger Menschen, die keine vollwertige Ausbildung jenseits der Pflichtschulzeit haben. Das hat für deren Lebensgeschichten dramatischere Folgen als früher. Genauso haben wir am anderen Ende ein Problem: Durch das zentralisierte und einheitliche System – Zentralmatura etc. – bieten wir Kindern, die anders sind, etwas anderes können und wollen, keinen anständigen Ort. Gerade in einem kleinen Land wie Österreich leben wir aber von der Buntheit. Im Schulwesen haben wir zurzeit jedoch die wahnsinnige Tendenz, die Unterschiedlichkeit der Leute als Nachteil und nicht als Leistung zu empfinden.