Herr Bruckner, zu welcher Sorte von Europäern zählen Sie sich: Gehören Sie zu den Optimisten oder sind Sie Pessimist?
PASCAL BRUCKNER: Ich bin eher Optimist, zur gleichen Zeit aber auch Realist, der beunruhigt ist über die Zukunft Europas.

Ist es schwer, in Zeiten wachsender Polarisierung Realist zu sein?
Die Leute stürzen sich in politische Leidenschaften. Wie die Manichäer teilen sie die Welt in Gut und Böse. Europa wird entweder in Bausch und Bogen abgelehnt oder ohne Wenn und Aber bejaht. Doch der Weg zur Wahrheit ist kurvenreicher.

Wie das Leben insgesamt ist Europa weder schwarz noch weiß.
Vor allem ist das Leben in Europa wunderbar. Der Wohlfahrtsstaat ermöglicht es bei uns sogar den Schwächsten, besser zu überleben als anderswo. Deshalb ist Europa so begehrt, sei es von großen Raubtieren wie Russland und China, sei es von Zuwanderern, die sich hier unbedingt niederlassen wollen.

Warum sind die Europäer sich ihres Glücks nicht bewusst?
Europa wird von Selbsthass beherrscht, von Zweifel und Überdruss. Es ist eine alte Krankheit des Kontinents. Die Europäer haben sich lange in einem Paradies gewähnt, das sie vor Modernisierung und Migration schütze. Die miserable Politik Brüssels hat sie ihrer Illusionen beraubt. Es herrscht ein allgemeines Gefühl der Verlorenheit.

Reden gegenwärtig in Europa deshalb alle nur von Identität?
Man spricht von Identität, weil sie nicht mehr selbstverständlich ist. Es gibt eine rechte und eine linke Identität, die sich erbittert bekämpfen. Während die rechte eine Identität der Völker und Nationen ist, die sich in ihrer Eigenart angegriffen fühlen, will die linke die Vielfalt in der Gesellschaft stärken und verteidigt Minderheiten wie Migranten oder Menschen mit besonderer sexueller Orientierung. Allgemein wird die Identität der Rechten für schlecht und die der Linken für gut befunden. Das ist absurd, da nachvollziehbar ist, warum die Osteuropäer darunter leiden, dass ihre Identität infrage gestellt wird.

Es sind Völker, die in ihrer Geschichte oft überfallen und von Osmanen, Russen und Habsburgern fremdbeherrscht wurden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind sie in der Hoffnung nach Europa heimgekehrt, auch als Nation ihre eigene Identität wiederzufinden. Wie seinerzeit die Einmischung Moskaus empfinden sie auch die Interventionen Brüssels als Diktat von außen.

Bedroht dieser Irredentismus der Osteuropäer ganz Europa?
Es gibt ihn nicht nur in Osteuropa. Er findet sich mittlerweile überall, in Frankreich, England, Spanien und Italien. Die Ungarn und Polen waren nur die Avantgarde einer Revolte der Völker gegen ein Europa, das sie den großen Winden der Modernisierung schutzlos ausgeliefert hat.

Was ist Identität eigentlich?
Es ist die Idee, dass wir Erben und Beschützer einer Geschichte sind, die wir an unsere Kinder und Enkelkinder weitergeben. Die Schwierigkeit ist jedoch, dass Identität wandelbar ist. Das Frankreich des 18. Jahrhunderts hat nicht viel mit dem Frankreich von heute zu tun. Man muss eine gewisse Plastizität zulassen. Aber es gibt trotzdem einen gemeinsamen Hintergrund. Der große Fehler der Technokraten des vereinten Europa war und ist es, Europa – wie es der Soziologe Ulrich Beck formuliert hat – als „substanzielle Leere“ zu betrachten. Als Leerstelle, offen für alles und für jeden, der hier leben will, vorausgesetzt, er erfüllt gewisse demokratische Kriterien.

Wie kam es dazu?
Europa wurde nach 1945 auf der Scham vor seiner eigenen Identität errichtet. Nachdem es das Monster des Nazismus und das Ungeheuer des Kommunismus geboren hatte, konnte es sich nur neu konstruieren, indem es sich vereinigte. Und diese Vereinigung bestand darin, das Böse auszutreiben, von dem man meinte, dass es in der deutschen, aber auch in den anderen europäischen Kulturen stecke. Und so wurde Europa nach und nach auf einer Abstraktion errichtet.

Um der Barbarei ein Ende zu bereiten, hat es sich selbst ein Ende gesetzt. Der Euro ist der schönste Beleg davon. Die alten Geldscheine, die deutsche Mark, der französische Franc, die spanische Peseta und die italienische Lira, zeigten große europäische Gestalten wie Goethe, Pascal, Cervantes und Leonardo. Auf den Banknoten der neuen gemeinsamen Währung finden sich Brücken und Bögen und leere Plätze, gerade so als wäre Europa eine Wandelhalle, die alle aufnimmt, die eintreten wollen.

Kann es überhaupt ein Europa ohne Nationalstaaten geben?
Früher einmal habe ich das geglaubt. Nach 1989 dachte ich, dass ein föderales, sich zu einer neuen Großmacht zusammenschließendes Europa unmittelbar bevorstünde. Aber das war nicht der Fall. Wirklich an der EU zu zweifeln begonnen habe ich während der Jugoslawienkriege. Die Europäer waren unfähig, eine gemeinsame Linie zu finden, und haben sich völlig entzweit. Am Ende war es wie immer Washington, das Frieden schuf. Die Vereinigten Staaten von Europa existieren nicht und werden wohl nie existieren.

Für Sie ist aber auch die Nation nur eine „Legende“. Wie das?
Sie ist eine Legende, aber eine notwendige. Denn jede Nation ist eine Erzählung. Die französischen Revolutionäre nach 1789 haben das begriffen und die Geschichte Frankreichs neu geschrieben. Sie war nicht länger die Geschichte der großen Stunden des Königtums, sondern jene der Unterdrückung der Armen. In ähnlicher Weise diskutiert Frankreich heute darüber, ob man die Geschichte des Landes als nationalen Roman einer Republik schreiben soll, die sich weiter entwickelt, oder ob man die Geschichte mit Blick auf Imperialismus, Kolonialismus und Sklaverei einer Revision unterziehen muss.

Und, was meinen Sie?
Natürlich müssen wir den dunklen Kapiteln unserer Geschichte Rechnung tragen. Aber wenn wir immer nur die Erinnerungen der Opfer heraufbeschwören, werden wir nie ein harmonisches und versöhntes Volk schaffen. Unser nationales Gedächtnis wird eine offene, schmerzende Wunde bleiben. Wie Ernest Renan glaube ich, dass man, um Geschichte zu machen, damit beginnen muss, sie zu vergessen. Dass ein Volk, das seine leidvolle Erinnerung wiederkäut, auf der Stelle tritt.

Gilt das auch für Europa?
Europa kratzt unablässig seine Wunden. Für Europa ist existieren sich entschuldigen. Warum auch nicht? Es ist gut, dass wir uns von den Verbrechen der Vergangenheit distanzieren. Aber ich warte noch immer auf die Entschuldigung der Russen, die über Jahrhunderte Europas Völker überfallen haben. Und ich warte darauf, dass Erdoan um Verzeihung für die osmanische Besatzung des Balkans bittet.

Wenn wir unseren Kindern als einziges Programm nur Reue anbieten, werden wir nie eine starke politische Ordnung schaffen. Das ist die große Überlegenheit der Vereinigten Staaten. Sie haben schreckliche Verbrechen begangen und begehen sie noch immer. Aber Amerika ist für seine Bürger ein Gemeinschaftsprojekt. Europa dagegen ist das Bedauern. Aber wenn wir weiter nur bereuen, dann werden wir verschwinden.