Seit Tagen fegt ein kalter Wind durch das Tal der Durance. Er braust über die kahlen Kuppen der Montagne de Lure, wirbelt durch die Gassen der im blauen Licht der Frühlingssonne gleißenden Weiler und lässt auf den einsamen Dorfplätzen die Platanen knarren.

Hoch über dem Tal in ihrer alten Abtei am Berg von Ganagobie haben sich die Mönche um den Altar versammelt. Es ist eine Handvoll greiser Patres und ihr Gesang verliert sich im hohen Chor. Der Prior liest das Evangelium. Seine Predigt ist lang und umständlich. Nach dem Schlusssegen geht ein jeder der paar Kirchgänger rasch seiner Wege.

Von Orten wie Ganagobie aus wurde Frankreich einst christianisiert. Aber selbst diese letzten Glutnester des Glaubens in einer säkularisierten Gesellschaft erlöschen. Die Erosion schreitet auch anderswo voran. Frankreich ist im Umbruch und es ist die alte Ordnung selbst, die wankt. Vieles von dem, was den Franzosen Halt und Orientierung gab, Familie, Dorfgemeinschaft, Parteien, Gewerkschaft, Arbeit, löst sich unter dem Druck der Globalisierung auf. Aber was tritt an seine Stelle?

"Wen wundert es da, dass wir auf die Straße gehen?“

In La Brillanne an der Straße, die von Sisteron flussabwärts nach Manosque führt, sitzt im Café Le Central eine Gruppe von Gelbwesten. Es sind Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft. Was sie eint, ist ihr Zorn auf die Pariser Eliten, auf das „Netz aus Hochfinanz, multinationalen Konzernen und Medien“ und deren „bestes Pferd im Stall“, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. „Jede Woche muss ich mich beleidigen lassen“, sagt Hélène Degand. „Monsieur Macron hat erklärt, dass man in einem Bahnhof Leuten über den Weg läuft, die es geschafft, und solchen, die versagt haben. Die nichts sind. Wen wundert es da, dass wir auf die Straße gehen?“

Ein Land in Aufruhr

Seit Monaten ist das Land in Aufruhr. Am Anfang war es die Erhöhung der Benzinsteuer, die viele Franzosen, allen voran jene vom Land, Samstag für Samstag mit Blockaden an Hunderten Kreisverkehren ihre Wut noch friedlich auf die Straßen tragen ließ. Doch Teile der „Gilets jaunes“, wie sie sich nach ihren gelben Warnwesten nennen, haben sich radikalisiert. Es kam zu Krawallen in Paris und anderen Städten, Autos wurden in Brand gesteckt, Geschäfte verwüstet, es gab Verletzte und Tote. Sechs Monate nach Beginn sind die Proteste längst in Fundamentalkritik am System selbst gekippt. „Ich bin seit 20 Jahren Gilet jaune, nur wusste ich es nicht“, sagt Hélène.

Sie ist eine stolze, hochgewachsene Frau mit braunem Haar und Sommersprossen im Gesicht. Vor 20 Jahren hat es sie aus Lille im Norden in den Midi verschlagen. Jetzt, mit Mitte vierzig und alleinstehend, sucht sie Arbeit. „Hätte ich Kinder, würde ich es nicht schaffen“, erzählt sie. „Ich lebe von 900 Euro im Monat. Davon muss ich Miete, Strom, Wasser, Versicherungen und die Kosten für das Auto abziehen, auf das man hier angewiesen ist. Allein zum Arbeitsamt sind es hin und retour 50 Kilometer.“

Hélène ist kein Einzelfall am Tisch. Auch Alain, Mitte fünfzig, und Claire, eine Sekretärin im Krankenstand, leben mehr oder weniger vom Staat. Aber damit ist es so eine Sache. „Was man dir gibt, wird dir woanders genommen. Das ist eine Schlange, die beißt“, sagt Hélène. Nicht alle Gelbwesten haben sich im Dickicht des Sozialstaats verfangen. Ludovic Fiaschi ist nach einem abwechslungsreichen Unternehmerleben zu seinen linken Wurzeln zurückgekehrt. Das heißt, nicht ganz: Tagsüber redet „Ludo“, wie er gerufen wird, von Marx, Lenin und der Revolution. Am Abend lädt der Pensionist zu Jazzkonzerten in sein Kondominium, ein altes Landhaus.

"Die zentrale Frage lautet, wo die Macht ist."

„Ich bin ein Produkt des Mai 68“, sagt Ludo, also „sehr radikal“. Seit 50 Jahren würden Aktivisten seines Schlags versuchen, eine soziale Bewegung zu schaffen, die alle politischen Grenzen sprenge. Und nun das! Nun die Gelbwesten! „Hätte mir wer vor zehn Jahren erklärt, dass die Franzosen mit Holzpaletten in den Kreisverkehren Hütten errichten, hätte ich ihn für verrückt erklärt“, schwärmt Fiaschi.

Unterwegs zum Lager, das die Gilets jaunes in Saint-Auban zwischen Olivenbäumen erbaut haben, entspinnt sich im Auto folgender Dialog:
– „Ludo, hast du dich noch nie gefragt, warum ihr Gelbwesten bisher eine Minderheit seid?“
– Ludo: „Hast du in der Geschichte jemals eine soziale Bewegung gesehen, die nicht von einer Minderheit ausging?“
– „Aber ihr sagt doch, dass ihr das Volk seid. Was ist das Volk?“
– Ludo: „Das Volk, das sind die Leute, die sich zu einem gewissen Zeitpunkt in Marsch setzen. Mit der Mehrheit macht man keine Revolution. Die zentrale Frage lautet, wo die Macht ist. Und die Macht ist nicht dort, wo gewählt wird. Seit 200 Jahren trickst man es so, dass die Wahlen die realen Regeln der Macht nicht ändern. Aber wo die Macht ist, das wird gerade geklärt. Und siehe da, ein Wunder ist geschehen! Die Leute haben entdeckt, dass ihre Vertreter nicht sie, sondern lediglich eine Oligarchie repräsentieren, zu deren Verteidigung sie das Volk unterdrücken müssen. Diese Erkenntnis wird sich ausbreiten wie ein Ölteppich.“

Vorerst verschafft sie sich anders Luft. Überall im Tal der Durance sieht man demolierte Radargeräte und Verkehrsschilder. Manche haben die Westenträger als Aufstand des ländlichen Frankreich gedeutet, als Rebellion der Abgehängten der Provinz gegen die Bobos in den Metropolen. Andere sahen schon die Partei von Marine Le Pen heimlich Regie führen. Aber der Demograph Hervé Le Bras konnte mit einer Karte nachweisen, dass die Proteste dort den größten Zulauf hatten, wo Frankreich am dünnsten besiedelt und die Distanzen zu Ämtern, Ärzten und Schulen am weitesten und nur mit Auto bewältigbar sind.

Der Schriftsteller René Frégni aus Manosque kann der These vom Aufstand der Peripherie einiges abgewinnen. Wir treffen uns auf dem Marktplatz von Vinon-sur-Verdon, wo die Händler gerade ihre Stände abräumen, und fahren weiter zum Haus seiner Lebensgefährtin Nicole, einer Lehrerin. Mit seinen filigranen Zügen und dem wachen Blick unter dichten Brauen ist Frégni eine elegante Erscheinung. „Als ich vor Jahren zu schreiben begann, war mir nicht bewusst, wie stark zentralisiert Frankreich ist“, erzählt er. „Alles ist in Paris, Banken, Ministerien, Radios, Fernsehsender, Zeitungen, Galerien, Verlage. Um einen Fuß in die Kultur zu setzen, musste man Teil dieses Machtzirkels sein. Ich aber war in meinen provenzalischen Hügeln verloren.“

La France profonde

Vier Romane seien von den Verlagen abgelehnt worden, erzählt Frégni. „Das hat mich irre gemacht, weil ich spürte, dass dieses jakobinische Land sich nur um seinen Nabel dreht, um Paris.“ Aber irgendwie habe er es dann doch geschafft. Heute ist der 71-Jährige Autor bei Gallimard, dem berühmtesten französischen Verlag, in dem schon Camus und der von ihm verehrte Jean Giono publizierten, der zurückgezogen in Manosque lebte. Wie dessen Werke spielen auch Frégnis Romane in der Provence, die bei ihm Sehnsuchtsort und zugleich trügerisches, über den dunklen menschlichen Abgründen flirrendes Idyll ist.

Auch die Wahl der literarischen Schauplätze kann eine Botschaft sein. Einst habe das ländliche Frankreich eine wichtige Rolle in der Literatur gespielt, sagt Frégni. Aber auch hier gebe es eine Urbanisierung. „Die meisten schreiben über Paris, weil sie dort leben. Ich weiß nicht, ob es für Giono, François Mauriac und die anderen großen Schriftsteller, die in der französischen Provinz lebten, heute noch Platz gäbe.“ Dabei sei die Provinz immer das Rückgrat des Landes gewesen.

Da ist es also, das mythenumwobene Bild von der France profonde, dem „tiefen“, ländlichen Frankreich. Aber wo entspricht es heute, da das Land von innen heraus verödet, noch annähernd der Wirklichkeit?
„Das tiefe Frankreich, das sind die Leute, die im Stillen arbeiten, wie die Ameisen“, antwortet Frégni. Das sei immer so gewesen, nur habe sich das Umfeld radikal gewandelt. In nur 50 Jahren habe die Globalisierung die traditionelle Welt der Franzosen umgepflügt. Ein Dorf wie Vinon, wo es früher den Priester, den Lehrer, den Bürgermeister, Handwerker und Bauern gab, werde pulverisiert. „Die Leute ziehen aus Paris und Marseille zu. Sie leben in Häusern am Land und mähen am Sonntag den Rasen. Aber aus Angst, ausgeraubt zu werden, verlassen sie ihre Villen nicht, gehen nie ins Dorf, nie auf die Gemeinde, nicht in die Kirche, nie ins Bistro. Stattdessen bekommen sie über das Fernsehen tausend widersprüchliche Nachrichten am Tag und wissen am Ende nicht mehr, wer sie sind.“

Dabei sei Frankreich noch in den 70er-Jahren das verwöhnteste Land in Europa gewesen. „Wir hatten alles: wunderbare Landschaften und Küsten, Landwirtschaft, eine große Küche und Industrie“, so Frégni. Geblieben seien teure soziale Privilegien wie die 35-Stunden-Woche, die, nachdem die Großkonzerne ins Ausland abgewandert seien, von einer immer ärmer werdende Mittelklasse bezahlt werden müssten.

„Und dieses Frankreich, das sich abrackert und schwitzt und es satthat, die Melkkuh zu sein, trifft man an den Kreisverkehren. Sie sind der Ort, an dem sich alle Unzufriedenen sammeln.“ Daher auch das Erratische der Gelbwesten: Es ist ein Amalgam, sagt Frégni. „Trotzkisten und Nationalisten, Langzeitarbeitslose, die eine Erhöhung der Sozialhilfe fordern, und Handwerker, die genau dafür keine Steuern mehr zahlen wollen.“

Und dann gibt es noch jene, die die Kreisverkehre meiden. Florentin Schaal zählt zu ihnen. Vor 17 Jahren haben er und seine Frau Céline beschlossen, die triste Pariser Banlieue hinter sich zu lassen und Bauern zu werden. 60 Schafe tummeln sich auf ihrer Weide am Fuß der Montagne de Lure. Der aus ihrer Milch produzierte Käse wird ab Hof vermarktet und an Bioläden geliefert. Die Einkünfte sichern der Familie ein gutes Auskommen. „Wir wollten raus aus der Konsumgesellschaft und haben es nie bereut. Von Beginn an hatte ich das Gefühl, in eine neue Welt zu kommen. Wir haben zwei Kinder und ein wunderbares Lebensumfeld. Die Städte sind voll Menschen, die schweigen. Am Land leben nur wenige, aber jeder spricht mit jedem“, sagt der Bauer. Und die Gilets jaunes? Schaal zuckt mit den Achseln. „Die kämpfen den falschen Kampf. Die einen wollen keine Steuern zahlen, die anderen sind gegen Umweltschutz. Ich bin für beides. Aber alle ziehen sich gelbe Westen über. Das ist schwer zu verstehen. Aber sogar die Gelbwesten begreifen es schlecht.“

Es wird Abend, die Sonne steht tief, friedlich trotten die Schafe in den Stall, bald wird sich die Nacht über die Montagne de Lure senken. „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, ich würde nicht mit einem saudischen Prinzen tauschen“, sagt Florentin Schaal und lacht. Natürlich gibt es auch das in diesen bewegten Tagen. Ein ländliches Frankreich, das von Rebellion nichts wissen will, sondern mit sich und der Welt im Reinen ist.