Es gibt bei uns den Witz, dass der Konstrukteur des neuen Flughafens von Berlin ein Grieche ist“, sagt Yorgos Kourtidis. Der Berliner Flughafen, der 2012 betriebsbereit hätte sein sollen, wird frühestens 2020 eröffnet.

Kourtidis gründete 2016 gemeinsam mit zwei Freunden das schmucke, familiär geführte Bed and Breakfast „The Caravan“ im Herzen von Thessaloniki. Bis dahin erlebte der Vater einer fünf Monate alten Eva allerdings eine Odyssee: „Zwei Jahre hat es allein gedauert, bis wir die Genehmigung für 13 Toiletten hatten! Das ist Griechenlands größtes Problem: Es dauert alles so ewig“, klagt Kourtidis, der einen Studienabschluss in Wirtschaft in der Tasche hat. Der 38-Jährige mit „Slovenia“-T-Shirt kratzt sich am Bart: „Aber erklär das einmal der Bank, die dir die Kredite geben soll.“

Die Krisenjahre in Griechenland seien noch lange nicht vorbei, sagt er, auch wenn vorigen August das dritte Euro-Rettungspaket für Griechenland ausgelaufen ist, das Land somit wieder auf eigenen Beinen steht und vorerst kein Staatsbankrott wie 2010 droht. Allerdings liegt die Arbeitslosenquote bei fast 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist doppelt so hoch.

„Es stimmt etwas mit der Gesellschaft nicht, wenn es keine Arbeit für junge Menschen gibt“, sagt Evangelia Danadaki. Die 25-Jährige studiert Politikwissenschaft an der Universität von Thessaloniki, einer der größten Unis Europas. Wenn sie fertig ist, möchte sie nach Deutschland: „Nach Berlin“, sagt sie, während sie in ihrem Milchkaffee rührt, im Starbucks in der Nähe des Weißen Turms, einem Wahrzeichen von Thessaloniki direkt am Meer.

Der Weiße Turm ist bräunlich wie das Wasser, das an diesem unwirtlichen Tag an die Mole schmatzt. Trotzdem stehen Fischer am Ufer mit Angelruten. Sie haben freien Blick auf den Olymp, der heute eine Wolkenkrone trägt. Auf die Frage, ob in diesem verschmutzten Wasser überhaupt mit Fang zu rechnen sei, antwortet ein junger Mann verlegen: „Eher nicht, aber ich verbringe hier eben so meine Zeit.“

Merkel und Schäuble mit Hitlerbärtchen

Evangelias Großeltern haben einige Jahre in Deutschland gelebt, ihr Vater wurde in Dortmund geboren, der Großvater arbeitete im Ruhrgebiet in einer Mine und starb dort auch bei einem Bergwerksunglück. Einen negativen Beigeschmack habe Deutschland deswegen nicht: „Meine Großeltern waren Gastarbeiter. Sie wurden gebraucht. Die Deutschen waren gut zu ihnen.“ Die Sparmeisterrolle Deutschlands in der Hoch-Zeit der Schuldenkrise mit Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble als oberster Instanz, die auf Plakaten in Griechenland oft mit Hitlerbärtchen zu sehen waren, will Evangelia nicht überbewerten: „Es hat sich eben etabliert, dass die Leute sagen: Europa, das ist Deutschland.“ Deutschland sei aufgrund seiner Stabilität und seiner starken Wirtschaft in eine Führungsrolle hineingewachsen.

Als Hegemon, als dominanter Staat innerhalb einer Staatengruppe, empfindet die 25-Jährige Deutschland aber nicht: „Ich bin die Erasmus-Generation, wir studieren da und dort und erkennen, dass die Unterschiede zwischen den Kulturen vordergründig groß sein mögen, doch letztlich ähneln sich die Menschen in ihren Wünschen und Hoffnungen sehr.“

In Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands, die in der Region Makedonien liegt und zuletzt durch heftige Protestkundgebungen nach Athens Einigung im Namensstreit mit Nordmazedonien auffiel, sei zwar vieles keineswegs so, wie es sein sollte, „aber alles hat ein Herz“. Der Slogan der Stadt sei stimmig: „Many faces, one heart.“ Er stammt aus der Ära von Bürgermeister Yannis Boutaris.

Der frühere Winzer, dessen Weingut die Söhne übernahmen, trägt eine Brille wie John Lennon, ist 77 und tätowiert: ein Gecko als Sinnbild für die Häutungen, ein Einhorn, das er sich nach dem Tod seiner Frau stechen ließ. Vor sieben Monaten hat er wieder geheiratet, verrät er uns in seinem Büro: „Ich hatte genug vom Alleinsein. Es war eine Heirat aus Liebe.“ Was sonst?

Der parteilose Bürgermeister, der in kein Links-rechts-Schema passt, zieht seine Hosenträger fest und steckt sich eine filterlose Camel an. Ein Held muss anders sein als der Rest, heißt es schon bei Homer. In seinem Büro, das zur einen Seite aufs Meer geht, auf der anderen auf die Berge zu, die er mehr liebt, setzt er sich in einen Polstersessel und beginnt zu erzählen.

In zwei Monaten wird ein neues Stadtoberhaupt gewählt, Boutaris tritt nicht mehr an, er war acht Jahre lang Bürgermeister. Er wolle sich auf das Weingut, eine Stunde von Thessaloniki entfernt, zurückziehen und aufs Land blicken. Sein Vorgänger hat nur schwedische Gardinen vor Augen, er sitzt wegen Korruption im Gefängnis, lebenslänglich. Mit der Müllmafia hat Boutaris in seiner Amtszeit aufgeräumt, die mit dem Dreck der Stadt ein eigenes schmutziges Geschäft aufgezogen hatte. Das Verkehrsproblem, Hunderte Autos, die sich nervös durch die engen Straßen quälen, nun ja, das werde noch dauern. Thessalonikis Traum von der U-Bahn erinnert an den Berliner Flughafenbau: Le temps perdu. Die Bauarbeiten begannen Ende 2006, 2020 sollte es doch so weit sein.

„Bei uns geht alles langsamer“, sagt Boutaris. Die griechische Mentalität habe etwas „Postsowjetisches“ an sich, der Staat solle es richten, sei oft die Haltung. Auch sein Herzensanliegen, endlich ein Holocaust-Museum in der Stadt zu haben, brauche Zeit. Die jüdische Lebenswelt, die Thessaloniki über Jahrhunderte geprägt hat, wurde von den Nazis ausgelöscht: 56.000 Judenwurden 1943 nach Auschwitz deportiertund ermordet. Die Juden waren bis dahin die größte Bevölkerungsgruppe in der nordgriechischen Stadt, das Ladino, ihre altspanische Sprache, war die Lingua franca Thessalonikis.

Das "Jerusalem des Balkans"

Das einstige „Jerusalem des Balkans“, das Anfang des 20. Jahrhunderts keine griechische Stadt war, sondern nach Istanbul die zweitwichtigste Stadt des Osmanischen Reiches und Geburtsort von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, wurde in der Hitler-Zeit vernichtet. David Ben-Gurion, einer der Gründerväter Israels, ging 1911 nach Thessaloniki, um Türkisch zu lernen. Er sagte später, Thessaloniki sei eine der jüdischsten Städte, die er je kennengelernt habe. Von den mehr als 30 Synagogen ist heute nur noch eine übrig, restauriert mit deutschem Geld und jenem der Stavros Niarchos Foundation.

GriechenlandsGeschichte im 20. Jahrhundert war geprägt von Gewalt, Fremdherrschaft, Bürgerkrieg und von einem Militärregime, das sich bis Mitte der 70er-Jahre an der Macht hielt. Das alles, aber vor allem diese „unerklärte Absenz“ von allem Jüdischen in Thessaloniki will Boutaris wieder ins Gedächtnis holen. „Wer seine Geschichte nicht kennt, hat keine Zukunft“, sagt er. Man spüre, dass etwas fehlt. „Wir brauchen die Erinnerung nicht nur für die jüdische Bevölkerung, sondern für alle hier, wenn wir in Frieden miteinander leben möchten“, erklärt der Bürgermeister. Thessaloniki sei immer eine Stadt der Vertriebenen gewesen. Waren es früher sephardische Juden aus Spanien oder Pontos-Griechen aus der Türkei, so seien es heute Syrer oder Afghanen. „Diese Menschen müssen wir so behandeln, wie wir behandelt werden wollen, sonst gibt es keinen Frieden.“ Alle heutigen Flüchtlinge in Griechenland eine, dass sie weiter nach Deutschland wollen: „Weil sie dort Verwandte haben, auf Arbeit hoffen, weil sie denken, dass es den Menschen dort an nichts fehlt.“

Ausschreitungen an der Grenze

Zuletzt hatten sich Zehntausende Flüchtlinge, die teils integriert in der Stadt, teils in einem Camp etwas außerhalb leben, zum Marsch an die Grenze zu Nordmazedonien aufgemacht, weil sich die Nachricht verbreitet hatte, die Balkanroute sei wieder offen. „Die Menschen saßen Fake News der Schlepper auf“, sagt Boutaris. Es kam zu Gewalt zwischen Flüchtlingen und Polizei, letztlich beruhigte sich die Lage wieder.
„Die EU hat in der Flüchtlingsfrage leider keinen strategischen gemeinsamen Plan. Das ist das Problem“, kritisiert der Bürgermeister. Geld nach Griechenland zu schicken, damit „die dort“ das Flüchtlingsproblem lösen, sei hilfreich, aber zu wenig. „Will die EU wirklich helfen, muss sie dort hinsehen, wo die Ursache für Migration und Flucht liegt, damit die Menschen auch in ihrer Heimat bleiben können. Das sollte auch Deutschland fokussieren.“

Deutschland taucht in Thessaloniki oft auf, auch als großer Investor. „Investment ist keine Sache des Sentiments. Es ist eine Sache der Interessen“, sagt Boutaris. „Deutschland ist das reichste Land Europas. Deutschland investiert, wo es geht.“ Und ob man es wolle oder nicht: „Die Deutschen haben die Führungsrolle in Europa. Die Herausforderung ist aber“, sagt Boutaris, „dass die Deutschen europäischer werden müssen, nicht Europa deutscher.“ Das Problematische an den deutsch-griechischen Beziehungen: „Die Deutschen kommen als Schulmeister und sagen: Macht dies, macht das! Das mag niemand.“

Der Airport von Thessaloniki ist in deutscher Hand, auch beim Hafen, dem zweitgrößten Griechenlands und dem wichtigsten für den südlichen Balkan, hält ein deutsches Konsortium die Mehrheit, selbst wenn mit Theofanis Sotiris, der viele Jahre den Hafen in Piräus geleitet hat, ein Grieche der CEO ist: „Ich habe kein Problem mit Deutschen, schließlich haben sie mich hier eingesetzt“, erklärt er nüchtern in seinem Büro auf dem Pier 1. Dass seine Hafenarbeiter 2015 und 2016 gegen die Hafen-Privatisierung gestreikt hatten, wischt er weg: „Ich war damals noch nicht hier.“

Doch auch bei den Arbeitern hat heute anderes Priorität: Auf einem Schild im weitläufigen Werksgelände, das mit einem Elektrozaun abgesichert ist, steht: „Tage ohne Unfall: 79.“ „Bisheriger Rekord: 414.“ Ein Hafenarbeiter, der nach der Schicht mit Zigarette im Mundwinkel in seinen Skoda steigt, sagt: „Mir ist egal, wer die Firma führt. Ich habe Familie. Ich bin froh, dass ich Arbeit habe.“

Den Streik der Hafenarbeiter haben die Brüder Kanakas noch in schrecklicher Erinnerung. Theodoros (38) und Dimitris (36) leben in Chalastra, dem Herzen der griechischen Reisproduktion. Der unscheinbare Ort ist eine halbe Autostunde von Thessaloniki entfernt. Im Mai, wenn die Setzlinge aus dem Boden herausschauen, leuchtet das ganze Gebiet lichtgrün. Jetzt im April ist alles braun.

Die Brüder Kanakas sind Söhne von Reisbauern. 2008, als es weltweit zur Lebensmittelkrise kam, haben sie antizyklisch gedacht und ihr eigenes Unternehmen gegründet. Mittlerweile sind sie für 20 Prozent der gesamten griechischen Reisproduktion verantwortlich. Als die Hafenarbeiter streikten, waren sie aber fast am Ende: „Tonnen Reis in Containern standen zum Verschiffen bereit, doch der wurde nicht ausgeliefert. Wir waren verzweifelt“, sagt Theodoros. 65 Prozent ihrer Produktion gehen nach Europa, 35 Prozent in den Nahen Osten. „Wir brauchen noch zehn Jahre, bis es im Land aufwärtsgeht. Hier geschieht alles langsam, zum Verrücktwerden langsam.“

Die Verzweiflung über die unerträgliche Langsamkeit des Seins eint viele hier in Thessaloniki. Bed-and-Breakfast-Betreiber Yorgos Kourtidis erinnert sich an einen Aufenthalt in Japan: „Dort funktioniert alles strikt nach Vorschrift und Regeln. Wenn ein Zug bloß eine Minute Verspätung hat, gibt es eine Durchsage. Wenn ein Grieche nur einen Tag in Japan leben muss, bringt er sich um.“