Auch zwei Tage nach dem „Sofagate“ in Ankara hat sich der Aufruhr in Brüssel noch nicht gelegt. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel waren am Dienstag nach Ankara zu Staatschef Recep Tayyip Erdogan gereist; es ging um bessere künftige Beziehungen. Beim gemeinsamen Gespräch standen dann für die drei Präsidenten nur zwei Sessel im Scheinwerferlicht – von der Leyen konnte nur ein indigniertes „Ähm...“ von sich geben, dann nahm sie, etwas abseits, auf einem Sofa Platz. Es war ein verheerendes Bild.

Vor allem für Ratspräsident Charles Michel, der sich ohne zu zögern den freien Platz geschnappt hatte und danach weder aufgestanden und ihn von der Leyen angeboten, noch einen dritten Stuhl verlangt, noch sich zu ihr aufs Sofa gesetzt hatte. Erdogan hatte Europa mit einer simplen Sitzordnung entzweit.

Seither fliegen die diplomatischen Fetzen. Wie konnte das passieren? Wer ist schuld? Welche Folgen hat das? Michel reagierte erst nach 24 Stunden mit einer „verhatschten“ und uneinsichtigen Facebook-Nachricht, er sei sich keiner Schuld bewusst. Es wäre bloß an der überaus strikten Interpretation der türkischen Protokollregeln gelegen. Dies habe zu einer "herabgesetzten Behandlung" der Kommissionschefin geführt, schrieb er am Mittwochabend auf seiner Facebook-Seite. Der "bedauerliche Charakter" der Behandlung sei ihm klar gewesen. Beide hätten dann entschieden, "ihn nicht durch einen öffentlichen Vorfall zu verschlimmern" und den Inhalt der Gespräche in den Vordergrund zu stellen.

Die meisten Beobachter der EU-Szene sind sich einig, dass vor allem Michel es war, dessen Nicht-Reaktion so fatale Wirkung hatte – in Bezug auf das männliche Frauenbild ebenso wie auf den gemeinsamen Auftritt als EU-Vertreter beim besonders heiklen Gastgeber Erdogan, der gerade eben aus der Istanbul-Konvention ausgetreten war. Ex-Präsident Jean-Claude Juncker mischte sich heute noch schnell ein und richtete seiner Nachfolgerin aus, er sei auch schon mal auf einem Sofa gesessen, das würde durchaus dem Protokoll nicht zuwiderlaufen. Gefallen tat er ihr damit keinen; mehrere Bilder zeigen ihn zudem bei ähnlichen Treffen gleichauf mit Erdogan und dem damaligen Ratspräsidenten Donald Tusk.

Männer unter sich: Ratspräsident Tusk, Erdogan, Kommissionspräsident Juncker bei einem G20-Treffen 2015
Männer unter sich: Ratspräsident Tusk, Erdogan, Kommissionspräsident Juncker bei einem G20-Treffen 2015 © AP

Es gibt zwar eine Art protokollarische Rangliste der EU-Spitzen, die aber nur dann schlagend wird, wenn bei internen Anlässen alle anwesend sind und eine Reihung benötigt wird, etwa für die Rednerliste. Auf dem ersten Platz steht da immer der Parlamentspräsident (als direkter Vertreter des Volkes), auf Platz der Ratspräsident und am dritten Platz der Kommissionspräsident. Nach außen hin aber, gerade bei gemeinsamen Besuchen in Drittländern, sind alle Präsidenten gleichgestellt. Der Rat verweist nun aber trotzdem auf die Reihung im EU-Vertrag, wonach das Protokoll "für Drittstaaten zwischen dem Status des Staatsoberhauptes, den der Präsident des Europäischen Rates innehat, und dem Status des Regierungschefs, den der Präsident der Kommission innehat" unterscheidet. Nachsatz: Dies könne "die Ursache für das Problem sein". 

Das Protokoll, die unterschätzte Einrichtung

Klar wird plötzlich, wie leicht man die Rolle des Protokolls unterschätzen kann. Ein blauer statt dem roten Teppich, eine nicht oder zur falschen Zeit gereichte Hand, ein Sofa statt ein Sessel – daraus können ernsthafte Krisen erwachsen, jedenfalls aber ikonische Bilder, die noch jahrelang digital widerhallen. Die Brüsseler Protokollchefs waren laut Kommission beim Türkeibesuch nicht eingebunden, die örtliche EU-Delegation hat somit Erklärungsbedarf. Mittlerweile veröffentlichte der EU-Rat eine Notiz von den Vorausplanungen des Treffens. Demnach hatte die EU-Vorausdelegation keinen Zugang zu dem Raum, in dem das später Gespräch mit von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel stattfand. "Es fand eine kurze Besichtigung der Räumlichkeiten statt", heißt es in dem Memo. Der Besprechungsraum sei aber "trotz unserer Bitten nicht zugänglich" gewesen, weil er "als zu nah am Büro von Präsident Erdogan erachtet wurde". Aktiv wurden die EU-Vertreter demnach im Speisesaal, zu dem sie kurzfristig doch Zutritt erhielten. Dort seien auf ihre Bitte "die drei Stühle für die VIPs zugunsten der Kommissionspräsidentin in der Größe angepasst" worden.

Die türkische Regierung macht längst die EU für den Vorfall verantwortlich. Die Sitzordnung sei „in Übereinstimmung mit dem Vorschlag der EU“ festgelegt worden, sagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Kritik an seinem Land wäre daher "unfair".

Von der Leyen selbst, so sagt die Kommission, habe im Augenblick des Affronts beschlossen, der Inhalt des Treffens sei wichtiger als der Sitzplatz – aber sie hat auch den EU-Leuten klar gemacht, dass so etwas nie wieder passieren soll. Doch damit ist die Sache noch lange nicht zu Ende. Konservative und Sozialdemokraten als größte Fraktionen im Europaparlament verlangen nun zu der "SofaGate"-Affäre eine Plenarsitzung mit von der Leyen und dem mit ihr gereisten EU-Ratspräsidenten Charles Michel. Die Türkei-Mission von der Leyens und Michels "hätte eine Botschaft der Festigkeit und Einigkeit unseres Vorgehens gegenüber Präsident Erdogan sein sollen", erklärte der Fraktionschef der konservativen EVP, Manfred Weber (CSU). "Leider hat sie zu einer Spaltung geführt, da die EU es versäumt hat, zusammenzustehen, als es nötig war. Wir erwarten mehr von Europas Außenpolitik."