Rückblende in den Sommer 2018. Österreich hat die Ratspräsidentschaft inne und zu den zentralen Punkten auf der Agenda gehört der „Schutz der Außengrenzen“. Damit einhergehend: Ausbau und Aufwertung der Grenzschutzagentur Frontex. Vom kühnen Plan, den Personalstand in kürzester Zeit von 1500 auf 10.000 Mann aufzustocken, kam man angesichts der Kosten bald wieder ab, das langfristige Ziel blieb erhalten – Stärkung des Mandats, bessere Ausstattung und, nach einigem Hin und Her wegen der Kosten, die Aufstockung auf 10.000 Mitarbeiter zumindest bis 2027.

Seither wird die Agentur, die selbst über Flugzeuge, Hubschrauber und Boote verfügt, von Jahr zu Jahr höher dotiert. 2015 wurde noch ein Jahresbudget von 142 Millionen Euro ausgewiesen, 2020 waren es 460 Millionen, heuer sollen es bereit 1,6 Milliarden Euro sein – Tendenz weiter steigend. Doch mit Geld allein sind die Probleme nicht gelöst, vielmehr handelte man sich neue ein.

Zuerst waren es noch eher formale Unschärfen, die das Hochfahren der in Warschau ansässigen Agentur begleiteten. Einmal ging es um die Qualifikation und Bezahlung der Rekruten, ein andermal waren es einzelne Länder, etwa Ungarn, die rasch darauf hinwiesen, dass sie an ihren eigenen Grenzen die eigenen Leute sehen möchten – und nicht externe Uniformierte.

Die Vorwürfe mehren sich

Doch mittlerweile gibt es massive Vorwürfe ganz anderer Art. Hatten vor allem rechte Politiker der Agentur im Lauf der Flüchtlingskrise vorgeworfen, vor allem im Mittelmeer mit Schleppern gemeinsame Sache zu machen, veröffentlichte Mitte Februar die Menschenrechtsorganisation Mare Liberum einen Bericht über insgesamt 321 Vorfälle, bei denen zwischen März und Dezember vergangenen Jahres 9798 Menschen auf der Flucht gewaltsam von der griechischen Grenze in die Türkei zurückgedrängt worden seien. An diesen „Pushbacks“ seien neben der griechischen Küstenwache auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex und Schiffe unter Nato-Kommando beteiligt gewesen, berichtete Mare Liberum unter Berufung auch auf Aussagen von Überlebenden. Die Menschen seien so "ihres Rechts auf Asyl beraubt" worden. In den meisten Fällen wurden demnach die Schlauchboote von Flüchtenden zerstört und die Insassen "gezielt körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt". In einigen Fällen seien die Menschen zurückgedrängt worden, nachdem sie bereits griechischen Boden erreicht hätten. Die sogenannten Pushbacks seien "keine Einzel- oder Extremfälle europäischer Abschottung, sondern vielmehr der gegenwärtige und alltägliche 'Modus Operandi' an der EU-Außengrenze", erklärte Co-Autor Paul Hanewinkel.

Damit nicht genug, begann die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf mit weiteren Ermittlungen gegen Frontex, bei denen es um einen möglichen Betrugsfall in Verbindung mit einem polnischen IT-Unternehmen ging, dazu kamen auch noch Vorwürfe wegen Mobbings und Schikanen innerhalb der Behörde. Schließlich setzte eine Recherchegruppe rund um den deutschen Satiriker Jan Böhmermann noch eins drauf: Frontex habe entgegen den eigenen Behauptungen in den letzten Jahren 16 Treffen mit Lobbyisten aus der Rüstungsindustrie gehabt, diese nur teilweise veröffentlicht und gegenüber dem EU-Parlament falsche Angaben gemacht. Bei den Treffen waren zahlreiche Rüstungsunternehmen wie Airbus oder Heckler&Koch dabei, aber auch die österreichische Waffenschmiede Glock. Auch das mehrheitlich im österreichischen Staatsbesitz stehende "Austrian Institute Of Technology" (AIT) soll teilgenommen haben; immerhin hat Frontex plötzlich ein riesiges Budget zu vergeben.

Im Mittelpunkt der Vorwürfe steht Fabrice Leggeri. Der Frontex-Chef wies bisher sämtliche Anschuldigungen zurück, doch der Druck auf ihn wächst. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hält es mittlerweile für fraglich, ob Leggeri der richtige Mann für den Job ist, und sie drängt auf raschere Aufarbeitung der Vorwürfe. Leggeri, so Johansson, „muss zeigen, dass er sein Haus in Ordnung hat."

Schwer unter politischem Beschuss: Frontex-Direktor Fabrice Leggeri
Schwer unter politischem Beschuss: Frontex-Direktor Fabrice Leggeri © AFP

Mit genau dieser Frage beschäftigt sich nun auch eine soeben eigens gegründete Untersuchungskommission des EU-Parlaments, der auch die steirische EU-Abgeordnete Bettina Vollath (SPÖ) als einzige Österreicherin angehört. Man müsse sicherstellen, dass „im europäischen Grenzschutz endlich der Schutz von Grund- und Menschenrechten über der Errichtung eines reinen Abschreckungsregimes steht", so Vollath.

Schnelles Aufarbeiten der Lage

Man habe ein parlamentarisches Instrument gebraucht, mit dem man schnell agieren könne, so Vollath zur Kleinen Zeitung: „Unser Bericht soll im Juli fertig sein, wir werden uns in Interviews mit den Vorwürfen, etwa jenen der Grundrechtsverletzungen, befassen.“ Es gebe etwa über die illegalen Pushbacks bereits zahlreiche Videos und Medienberichte, die Vorwürfe rund um die Lobbyistentreffen und die Olaf-Ermittlungen sind noch neu. Vollath: „Das ist besonders pikant. Direktor Leggeri ist immer wieder im LIBE-Ausschuss (Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, Anm.), da hat er gesagt, sie treffen sich mit niemandem von der Rüstungslobby.“ Die Parlamentsgruppe will auch der angeblich schlechten Stimmung innerhalb der Agentur nachgehen, wo es schon zu zahlreichen Kündigungen gekommen sein soll. Man habe freie Hand bekommen, so Vollath: „Wir können alle einladen, von denen wir hoffen, dass sie Licht ins Dunkel bringen können.“

In der Untersuchungskommission des EU-Parlaments: Bettina Vollath (SPÖ)
In der Untersuchungskommission des EU-Parlaments: Bettina Vollath (SPÖ) © Juergen Fuchs

Die österreichische Abgeordnete glaubt, dass man bei der Frontex-Stärkung einen Grundsatz verletzt hat: „Frontex ist in einem sehr sensiblen Bereich tätig und hat sehr an Macht dazugewonnen. Macht braucht aber Kontrolle.“ Das Parlament sei eigentlich dafür zuständig, es fehle aber an geeigneten Instrumenten. Vollath war selbst bereits im Frontex-Hauptquartier in Warschau: „Mein Eindruck war, dort ist alles sehr glattpoliert, man bekommt aber wenig Antworten auf die Fragen.“ Der bessere Schutz der EU-Außengrenzen sei durchaus erstrebenswert, aber es gäbe hier Missverständnisse: „Für manche heißt das, die Grenze mit der Waffe in der Hand verteidigen. Aber illegale Pushbacks gehen trotzdem nicht.“ Man müsse vielmehr Daten sammeln und als Grenzschutzagentur die Mitgliedsländer unterstützen, die Asylverfahren grundrechts- und menschenrechtskonform abzuwickeln: „Da ist einiges aus dem Ruder gelaufen.“

Personalprobleme

Bei der Rekrutierung von neuem Personal habe Frontex bereits eingeräumt, dass es Schwierigkeiten gibt – etwa bei der Streuung durch die EU-Länder. „Das hängt auch mit der Bezahlung zusammen, es wird nach Index in Warschau abgerechnet. Und es ist ein sehr schwerer Job. Nur ein kleiner Teil bekommt eine Grundrechteausbildung.“

Frontex-Chef Leggeri will von allen Kritikpunkten nicht viel wissen. „Die Schiffe, die von Frontex eingesetzt werden, stehen immer unter dem Kommando des Mitgliedstaats, der den Einsatz führt“, sagte er in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über die Pushbacks. Eine interne Untersuchung, was da tatsächlich vorgefallen ist, sei im Laufen. Er habe nun die EU-Grundrechteagentur um Unterstützung gebeten, auch, um vor Ort mehr Menschenrechtsbeobachter einsetzen zu können. Und er spricht von „Missverständnissen“ und schwierigen Rechtsfragen beim neuen, starken Mandat für seine Agentur. Er habe sich auch nicht mit Lobbyisten getroffen, sondern bloß mit Firmenvertretern, das sei ein Unterschied

Soll Fabrice Leggeri seinen Hut nehmen? Vollath: „Seine Antworten waren dermaßen unbefriedigend, dass wir schon vor Weihnachten gesagt haben, er ist nicht mehr tragbar.“