Gut besucht, aber nicht gefüllt. Das EU-Parlament in Brüssel war Corona-bedingt nicht voll besetzt, es hieß Masken auf und Abstand halten beim großen Ereignis, das den politischen Herbst in der EU einleitet. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hielt die Rede zur „Lage der Europäischen Union“. Ihre erste, von langer Hand vorbereitet, und sie überraschte mit mehr Emotion und persönlicher Färbung, als man das von ihr gewohnt ist.

„Unsere Welt ist fragil“, stieg sie ein, nachdem sie Medizinern, Pflegern, Helfern und allen anderen an der vordersten Covid-Front gedankt hatte. Das Virus habe die Schwächen des Gesundheitssystems offenbart und die „Grenzen eines Modells, das Wohlstand vor Wohlergehen stellt“. Es habe auch gezeigt, wie fragil die ganze Wertegemeinschaft eigentlich sei. Fast jedes Thema wird angerissen, die Präsidentin zeigte sich den Parlamentariern in Aufbruchstimmung – wohl auch ein tieferer Sinn des Ereignisses.

Es kamen viele konkrete Vorschläge, einen Teil davon haben wir hier einer Bewertung unterzogen (weiter unten). Manchen Dingen widmete sie viel Raum, etwa den sozialen Folgen der Pandemie. Arbeit würde sich für zu viele Menschen nicht mehr lohnen, deshalb will die Kommission nun einen Rechtsrahmen für Mindestlöhne einführen. Dann gehe es darum, den vier Grundfreiheiten wieder volle Geltung zu verschaffen; dazu passend will die Kommission eine neue Strategie für die Zukunft von Schengen vorschlagen.

Klimaziele noch höher ansetzen

Wie schon im Vorfeld angekündigt kommt dann der Vorschlag für eine Ausweitung der Emissionseinsparung von 40 auf 55 Prozent bis 2030, es folgte ein kurzer Abstecher zu Hass und Rechtsstaatlichkeit und schließlich, gegen Ende der fast eineinhalbstündigen Rede, das Thema Migration. Und wieder ließ von der Leyen aufhorchen: „Die Rettung von Menschen in Seenot ist keine Option, sondern Pflicht.“ Wer bleiben dürfe und wer zurück müsse, soll aber in Zukunft viel schneller als bisher entschieden sein; die, die bleiben können, sollen besser integriert werden.

Es gibt viele Reaktionen auf die Rede, eine kommt schon kurz danach direkt aus dem Kreml: Man solle ein wirtschaftliches Thema doch bitte nicht politisieren – von der Leyen hatte vom Giftanschlag auf Alexei Nawalny und andere solche Attacken gesprochen: „Dieses Muster ändert sich nicht – und keine Pipeline wird daran etwas ändern können.“
Österreichs EU-Abgeordnete nahmen die Rede gemischt auf. Othmar Karas (ÖVP) konstatierte das Bemühen, dass Europa in der Welt eine Rolle spielen soll. Andreas Schieder (SPÖ) sprach von einer „Kampfansage an die Bremser“. Die FPÖ lehnt die neuen Klimaziele ab, die Grünen begrüßen sie und die NEOS fordern „Vereinigte Staaten von Europa“.

Die Präsidentin schloss mit einer Bitte an die Abgeordneten und alle Europäer: „Reden wir Europa nicht schlecht. Arbeiten wir lieber daran.“

Zentrale Punkte der Rede und wie sie einzuschätzen sind

1Wenn bei Migration alle zu Kompromissen bereit sind, können
wir gemeinsam eine Lösung finden.

Einschätzung: Kommenden Mittwoch, eine Woche früher als geplant und damit noch vor dem Sondergipfel, präsentiert Ursula von der Leyen die neuen Vorschläge für eine Asylreform. Im EU-Parlament kündigte sie nach ihrer Rede an, sie plane die Dublin-Verordnung abzuschaffen und durch ein System zur Migrationssteuerung ersetzen. Nun ist es unbestritten, dass das Asylsystem dringend reformiert werden muss, nicht erst nach dem Brand im Lager Moria. Allerdings laufen hier tiefe Gräben quer durch Europa und die Aufnahme von Flüchtlingen wird unter anderem als Erpressungsmittel eingesetzt. Dennoch scheint ein „Solidaritätssystem“ (etwa freiwillige Aufnahmen oder Abschlagszahlungen) durchaus machbar, wenn auch die anderen Wünsche in Erfüllung gehen: Asyl- und Rückführverfahren sollen beschleunigt, die Schleuserkriminalität bekämpft und die Grenzen sicherer werden. Allerdings hätte man das schon längst machen können – das dämpft die Erwartungen.

2 Der „Green Deal“ ist unser Konzept für die Zukunft – und machbar.

Einschätzung: Es spricht viel dafür, die Umweltziele hoch anzusetzen und Europa auf aktiven Klimaschutz auszurichten. Die genannten Beispiele (etwa ein Über Energie aus Wasserstoff betriebens Stahlwerk in Schweden oder eine Million Ladestellen für E-Fahrzeuge) sind nachvollziehbar. Doch es gibt so manchen Haken. Zum einen ist von Technologien die Rede, die noch nicht einsetzbar sind, zum anderen könnte die EU die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben, etwa die Autoindustrie, die ja nicht von großen Plänen allein leben kann. Über den Wiederaufbaufond kann echte Lenkungswirkung erzielt werden – solange die EU nicht auf „greenwashing“ hereinfällt.

3 Wir müssen Lehren aus der Krise ziehen und eine starke europäische Gesundheitsunion schaffen.

Einschätzung: Der Corona-Schock sitzt tief und wird angesichts aktueller Ampel- und Reisebeschränkungen und drohenden neuen Lockdowns nicht geringer. Als ersten Schritt will die Kommission die Mittel für das Programm „EU4Health“ erhöhen und die Kompetenzen der Europäischen Arzneimittelagentur sowie des Präventionszentrums ECDC stärken. Weiters soll eine eigene Agentur (nach Muster BARDA) für biomedizinische Forschung aufgebaut werden und man will die Abhängigkeit von Lieferketten (etwa bei Arzneimitteln) abschütteln. Das alles ist umsetzbar. Das Grundproblem ist nicht gelöst: die Mitgliedsländer wollen die Zuständigkeit für Gesundheitsfragen bei sich behalten und nicht der EU Entscheidungen überlassen. Die Vorstellung, dass etwa ein Ampelsystem für steirische oder Kärntner Bezirke von Brüssel aus gesteuert wird, erklärt die Zurückhaltung. Auswüchse wie spontane Grenzschließungen sollten zumindest in Zukunft vermeidbar sein.

4 Wir setzen auf das digitale Jahrzehnt und seine Chancen.

Einschätzung: Dieser Plan könnte aufgehen. Acht Milliarden Euro stehen allein für die nächste Generation europäischer Supercomputer zur Verfügung, 5G, 6G und Glasfaserausbau lassen sich wirtschaftlich darstellbar begründen, dazu kommt die Versorgung des ländlichen Raumes. Künstliche Intelligenz, Industriedatennutzung und der rechtskonforme Umgang mit Daten sind „große“ Themen in der EU, damit sollte auch ein sicherer Umgang mit Daten gewährleistet sein. Nicht zuletzt hat die Pandemie offen gelegt, wie weit die USA (Silicon Valley) oder China in manchen Bereichen voraus sind – das sollte auch für private Unternehmen ein Ansporn sein, so die Idee.

5 Europa muss sich in globalen Angelegenheiten klar positionieren und rascher handeln.

Einschätzung: In der Außenpolitik wäre das dringend nötig, bleibt aber Zukunftsmusik. Im Handelsbereich ist das realistischer. Das Brexit-Desaster hat die Einheit der EU-27 eher gestärkt als geschwächt, gegenüber Amerika oder China kann die Union auf Augenhöhe auftreten. Solange es „nur“ ums Geschäft geht, sind die Vorzüge eines einheitlichen Vorgehens ersichtlich. Sobald die Politik im Spiel ist (siehe Russland-Sanktionen) ist eine gemeinsame Position schwerer zu finden und braucht ewig langer Abstimmungsrunden.

6 Wir werden dafür sorgen, dass das unser Geld vor Betrug und Korruption geschützt wird.

Einschätzung: Nicht ohne Grund wurde das Thema Rechtsstaatlichkeit nur am Rande behandelt. Der jüngste Vorschlag des Gipfels zur Bindung der EU-Mittel ist bestenfalls halbherzig, Strafverfolgung und Aufklärung von Betrugsfällen obliegen nationalen Behörden. Dieser Weg ist noch weit, ohne Rat geht nichts.