Moria am Tag nach den Bränden, die alles zerstört haben: ein entsetzliches Bild. Fast 13.000 Menschen haben ihre letzten Habseligkeiten im Feuer verloren und lagern jetzt unter freiem Himmel am Straßenrand. Nirgends gibt es fließendes Wasser oder Toiletten. Die Wasserflaschen, die neben den Köpfen der Menschen stehen, sind der wertvollste Besitz, berichten Journalisten der Deutschen Presseagentur. In vielen Fällen sind auch ihre Papiere verbrannt, ein Gutteil der Container des europäischen Asylbüros (EASO) ist ebenfalls zerstört worden und damit weitere Papiere, Anträge, Unterlagen. Alle laufenden Verfahren wurden eingestellt.

Um das weitere Schicksal der Flüchtlinge ist auf Lesbos ein neuer Streit entbrannt; Bewohner errichten Barrikaden und behindern auch Hilfskräfte, weil sie Angst davor haben, von verzweifelten Menschen überrannt zu werden. Selbst die Anlegestelle eines Schiffes, das rund 1000 Asylwerber aufnehmen soll, wurde blockiert. Die Angst vor Corona ist groß; 35 Fälle gab es bisher im Lager, die Betroffenen sind nicht mehr auffindbar. Laut Stelios Petsas, Sprecher der konservativen griechischen Regierung, haben Migranten den Großbrand im Camp Moria selbst gelegt. Petsas: „Wir sagen es ihnen klipp und klar: Sie werden nicht wegen des Feuers die Insel verlassen. Das können sie vergessen.“

Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus nannte das Geschehen die „bestangekündigte Katastrophe“ in Europa. Es sei klar gewesen, dass der Druck der Quarantäne „über kurz oder lang zu einem Ausbruch dieser Art führen würde“. Knaus kritisierte die politische Einstellung, wonach „Männer, Frauen und Kinder auf alle Ewigkeit festgehalten werden müssen“, um eine Erhöhung des Flüchtlingszustroms – einen sogenannten Pull-Effekt – zu vermeiden.

EU-Kommissar auf Lesbos

Hilfe ist immerhin angelaufen. Die Behörden suchen neue Unterkunftsmöglichkeiten, eine Fähre und zwei Marineschiffe sind auf dem Weg. Per Flugzeug sollen rund 400 unbegleitete Kinder aufs Festland gebracht werden, die EU hat finanzielle Hilfe zugesagt. Der für Migration zuständige EU-Vize-Kommissionspräsident Margaritis Schinas, selbst Grieche, reiste gestern nach Lesbos. Spätestens seit der großen Welle 2015 scheitert die EU an einer Reform des Asylsystems – vor allem deshalb, weil sich die Mitgliedsländer sperren. Mittelmeeranrainer wie Italien oder eben Griechenland fühlen sich im Stich gelassen. Für 30. September ist die Präsentation neuer Vorschläge durch die EU-Kommission vorgesehen. Schinas sagte, Basis seien die drei Bereiche bessere Zusammenarbeit mit Nachbar- und Transitländern, bessere Bewachung und Kontrolle der Außengrenzen und ein neues Solidarsystem innerhalb der EU zur Flüchtlingsverteilung.

Doch mit der Solidarität ist es offensichtlich nicht weit her. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel will nun die EU-Staaten davon überzeugen, sich an einer deutsch-französischen Initiative zur Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen aus Moria zu beteiligen. Merkel und Emmanuel Macron wollen zumindest 400 Kinder in der EU unterbringen. Schon bisher hat etwa ein Dutzend EU-Länder wie Portugal, Slowenien oder Kroatien Flüchtlingskinder aufgenommen. Andere Länder weigern sich strikt; in Brüssel nimmt man an, dass der Vorschlag zur Asylreform eine Art „Abschlagszahlung“ enthält – wer keine Asylwerber nehmen will, kann sich quasi freikaufen.

Österreich will niemand aufnehmen

In Österreich hat die Lage auf Lesbos erneut die Frage des Umgangs mit Migranten aufgeworfen: Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hatte in der Nacht auf Donnerstag erklärt, Österreich werde Zelte und Decken beisteuern, um Griechenland bei der Versorgung zu unterstützen – eine Aufnahme von Migranten in Österreich lehnt Schallenberg aber ab: „Das Geschrei nach Verteilung kann nicht die Lösung sein.“ Anders sehen das sowohl der Koalitionspartner der ÖVP, die Grünen – Abgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic will selbst nach Lesbos reisen, um auf die Situation aufmerksam zu machen –, als auch die Opposition: Die Neos protestierten gestern mit hundert Sesseln mit Plüschtieren vor dem Außenministerium. „Wer Kinder verkommen lassen will, vergeht sich an den Werten Österreichs und Europas“, erklärte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner.

Auch der Bundespräsident meldete sich zu Wort: „Besonders Kinder ohne Eltern brauchen jetzt unsere Hilfe. Europa und Österreich haben, da bin ich zuversichtlich, die Größe und Menschlichkeit, jetzt das Richtige zu tun“, sagte Alexander Van der Bellen.