Der Sondergipfel hatte mit Optimismus begonnen, doch bis zum Abendessen gab es kaum Fortschritte. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sieht im Ringen um den Wiederaufbaufonds aber letztlich doch Fortschritte. Nach einem Gespräch mit Angela Merkel und Emmanuel Macron sagte Kurz: "Es wird über die Nacht hier neue Vorschläge geben. Also es gibt Dynamik in unsere Richtung."

Kurz knüpfte seine Zustimmung an Reformen und nannte in diesem Zusammenhang explizit Italien. "Ich bin überzeugt davon, dass in Italien einschneidende Reformen notwendig sind", sagte er. "Und wofür wir sicherlich nicht zu haben sind, ist dass Länder Geld bekommen, ohne Reformen durchzuführen, weil dann würde dieses Geld versanden. Es hätte keine positive Auswirkung, sondern es würde vielleicht nur dem politischen System helfen, die notwendigen Reformen wieder einmal nicht anzugehen."

Der Bundeskanzler verteidigte außerdem seine Aussage über Staaten mit kaputten Systemen. Er habe nicht das Land Italien als kaputtes System bezeichnet. Aber er stehe dazu, "dass die Wettbewerbsfähigkeit sehr unterschiedlich ist, dass es problematische Systeme teilweise gibt, und manche Systeme auch kaputt sind". Kurz: "Ich kann Ihnen sagen, in welchem Land sehr viel getan wurde, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, und in welchem Land die Bürokratie, die Korruption, ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit die Wirtschaft hemmt."

Es sollte europäische Gelder nur dann geben, wenn Rechtsstaatlichkeit gewahrt sei, und wenn die Gelder auch in Ökologisierung und Digitalisierung fließen "und nicht in rückwärtsgewandte Projekte", sagte Kurz. Wenn das Geld irgendwo im System versande, nur in Banken fließe oder "vielleicht sogar im schlimmsten Fall sogar in der Korruption untergeht, dann bringt dieses Investment sehr wenig".

Hohe Erwartungshaltung

Kaum ein EU-Gipfel stand unter so hoher Erwartungshaltung wie das Sondertreffen, das am Freitag und Samstag in Brüssel stattfindet – nach zahlreichen Videokonferenzen während der Pandemie erstmals wieder im „realen“ Umfeld.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat vor einem Scheitern des EU-Sondergipfels über das Milliarden-Programm zur Bewältigung der Corona-Wirtschaftskrise gewarnt.

"Die ganze Welt beobachtet Europa - ob wir in der Lage sind, gemeinsam aufzustehen und diese Corona-bedingte Wirtschaftskrise zu überwinden", sagte von der Leyen am Freitag kurz vor Beginn der Gespräche mit den EU-Spitzen.

Auch die Menschen in Europa erwarteten eine Lösung, denn es seien ihre Arbeitsplätze, die gefährdet seien. "Sie sind dem Risiko des Virus nach wie vor ausgesetzt, und wir werden lernen müssen, mit dem Virus zu leben." Es stehe bei den Verhandlungen viel auf dem Spiel, sagte von der Leyen. "Der Tag heute ist von unglaublicher Wichtigkeit."

Zunächst wurden gleich zwei Geburtstage gefeiert: die Staats- und Regierungschefs haben der deutschen Bundeskanzlerin  zu ihrem 66. Geburtstag gratuliert. Auch dem portugiesischen Regierungschef Antonio Costa wurde Glück gewünscht - Costa feierte wie Merkel am ersten Gipfeltag Geburtstag, er wurde 59 Jahre alt. Gratuliert wurde auch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen - sie hat am Mittwoch geheiratet.

Gleich zu Beginn ging es dann, auf Wunsch von Ratspräsident Charles Michel, um besonders heikle Themen. Dazu gehören Beitragsrabatte für Länder wie Österreich, aber auch die Bedingungen, die für die Auszahlung der Hilfsmittel gelten sollen.

Um 21 Uhr begann, mit einstündiger Verspätung, für die Staats- und Regierungschefs das Dinner, davor gab es eine Pause für Beratungen. Charles Michel nutzte die Zeit, um bilaterale Gespräche zu zweit oder in kleineren Gruppen zu organisieren. Mehrere Länder wie Frankreich, Polen oder Tschechien sprachen sich gegen die Nettozahler-Rabatte aus, von denen auch Österreich profitieren könnte. Michel traf einzeln den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte und den ungarischen Regierungschef Viktor Orban, die verschiedene Vorbehalte gegen das von den großen EU-Staaten und der EU-Kommission geschnürte 1,8 Billionen Euro starke Finanzpaket für die kommenden Jahre haben.

Michel kam gemeinsam auch mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusammen. Der tschechische Premier Andrej Babiš hatte sich in der Gipfelpause am Abend pessimistisch geäußert. Er meinte, dass es keine Annäherung gegeben habe. Zum Auftakt des Gipfels waren italienischen Diplomatenquellen zufolge bereits Italiens Premier Giuseppe Conte und Rutte aneinandergeraten. Conte wies die Bedingung des niederländischen Premiers, wonach es ein Vetorecht gegen mit EU-Mitteln finanzierte nationale Reformpläne geben solle, brüsk als europarechtswidrig zurück. Der erste Gipfeltag endete schließlich gegen 23 Uhr.

Spekulationen um Zahlenmaterial

EU-Ratspräsident Charles Michel hat mit neuen Zahlen zum EU-Konjunkturpaket in einem Newsletter Verwirrung ausgelöst. Er nannte dort einen Gesamtbetrag von 1.750 Milliarden Euro für den Recovery Fonds "Next Generation EU" und für das Mehrjahresbudget von 2021 bis 2027.

Tatsächlich hatte Michel vergangenen Freitag aber eine Summe von 1.824 Milliarden Euro vorgeschlagen, davon 750 Milliarden Euro für den Wiederaufbaufonds und 1.074 Milliarden Euro für den EU-Finanzrahmen. Die Zahlendiskrepanz gab Anlass zu Spekulationen, ob Michel, der am Freitag einen neuen Kompromissentwurf vorlegen will, in dem Newsletter bereits die Richtung vorgab. Zunächst wurde das Zahlenmaterial jedoch als "Irrtum" zurückgezogen.

Worum es geht

Die 27 Staats- und Regierungschefs sollen gemeinsam mit den Spitzenvertretern der EU-Institutionen in zwei gewaltigen Themenbereichen zu einer Einigung finden: Zum einen drängt die Zeit für den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für die Jahre 2021 bis 2028, zum anderen geht es um die Details des „Next Generation EU“-Corona-Wiederaufbauprogramms für die Wirtschaft, dessen Finanzierung bis ins Jahr 2058 reichen könnte. Zwar gibt es grundsätzlich quer durch die Mitgliedsländer Zustimmung, über die Details ist man sich aber völlig in die Haare geraten.

Beredt: Italiens Premier Conte und der niederländische Premier Rutte
Beredt: Italiens Premier Conte und der niederländische Premier Rutte © AFP

Zum MFR und dessen Finanzierung hatte es schon bisher Diskussionen gegeben; die Beitragsleistungen der Mitgliedsländer orientieren sich an der europäischen Wirtschaftsleistung. Das EU-Parlament hat für die nächsten Jahre 1,3 Prozent davon verlangt, die Kommission berechnete zunächst 1,114 Prozent, vergangene Woche reduzierte Ratspräsident Charles Michel das noch einmal und veranschlagte einen Gesamtbetrag von 1074 Milliarden Euro für sieben Jahre. Österreich hatte auf Einsparungen gedrängt und war lange bei einer Obergrenze von einem Prozent geblieben – inzwischen scheint aber klar, dass der
Schlüssel angesichts der verheerenden Coronafolgen neu berechnet werden muss. Der Vorschlag von Michel beinhaltet ein Beibehalten der hohen Agrar- und Kohäsionszahlungen (der Agrarbereich war eine zentrale Forderung Österreichs), sieht aber Reduzierungen bei Bildung und Forschung vor, die seiner Vorstellung nach über Umwege wieder hereingebracht werden sollen.

Unmittelbar mit dem MFR verknüpft ist das Wiederaufbauprogramm. Zwar herrscht grundsätzlich Einigkeit über das Modell – die EU-Kommission wird ermächtigt, 750 Milliarden Euro auf dem Finanzmarkt aufzunehmen –, aber dann gehen die Meinungen quer durch Europa total auseinander. Der umstrittene Plan ist, dass 250 Milliarden Euro als rückzahlbare Kredite bereitgestellt werden, der doppelte Betrag, also 500 Milliarden, als Zuschüsse in die Länder gehen soll. Für Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, aktives Mitglied der „sparsamen Vier“ (mit Dänemark, Schweden und den Niederlanden), stimmt die Balance nicht: „Ich stehe in einem engen Austausch mit den anderen Regierungschefs, insbesondere Ratsvorsitzender Angela Merkel und Ratspräsident Charles Michel. Die Positionen der Mitgliedsstaaten beim Wiederaufbaufonds liegen noch weit auseinander“, stellt auch Kurz im Vorfeld des Gipfels im Gespräch mit der Kleinen Zeitung fest.

Österreich stehe durchaus hinter den Maßnahmen, auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu reagieren: „Es ist wichtig, jenen Ländern zu helfen, die am ärmsten und am meisten von der Corona-Pandemie betroffen sind. Aber ich trete entschlossen dafür ein, dass die Auszahlung von Geldern an klare Bedingungen geknüpft ist.“ Die ausbezahlten Mittel, so Kurz weiter, sollten auch „richtig“ investiert werden: „Etwa in Digitalisierung oder Klimaschutz und dass sie an Rechtsstaatlichkeit und Reformwillen geknüpft sind. Einen Einstieg in eine europäische Schuldenunion wird es mit uns ebenso nicht geben. Gegenüber unseren Steuerzahlern haben wir eine große Verantwortung.“

Ein großer Stolperstein ist die Rechtsstaatlichkeit. So hat etwa Viktor Orbáns Regierungspartei Fidesz im Parlament beschlossen, dass Ungarn dem Paket nur dann zustimmen wird, wenn das Land ohne Kontrolle selbst über die EU-Mittel verfügen kann – und die EU das laufende Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 zurückzieht. Es herrschen auch unterschiedliche Meinungen darüber, in welchem Zeitrahmen die Gelder ausbezahlt bzw. zurückgezahlt werden sollen, auch die Frage der Rabatte ist noch nicht endgültig geklärt. Wie berichtet, ist für Nettozahler Österreich im Michel-Vorschlag ein jährlicher Rabatt von 237 Millionen Euro vorgesehen. Dem Vernehmen nach will Michel heute neue Vorschläge ins Spiel bringen.

Wichtiger Faktor Zeit

Der Faktor Zeit spielt eine enorm wichtige Rolle. Die Länder verhandeln darüber, den Ausschöpfungszeitraum von vier auf drei Jahre zu verkürzen. Das könnte aber zur Folge haben, dass nur ein Teil der Mittel verwendet wird – und dass die begleitende Kontrolle bzw. die Entwicklung der Programme nur halbherzig erfolgt. Diese Sorge bestätigt auch EP-Vizepräsident Othmar Karas (ÖVP): „Ich bin sehr skeptisch, was die drei Jahre betrifft. Es muss genug Zeit sein, um Reformen einzuleiten.“ Wer die Chance des ersten persönlichen Treffens in Brüssel seit Beginn der Coronakrise verspielt, verschiebe die Chance auf einen raschen Wiederaufbau und verschärfe die Krise, statt sie zu bekämpfen, so Karas.

Im Pressegespräch hielten es die österreichischen EU-Abgeordneten von gleich vier Parteien (ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos) für realistisch, dass das Parlament die Rechtsstaatlichkeit ebenso wie andere Vorgaben auch weiterhin an die Zustimmung knüpft: „Das Parlament blockiert nicht, es nimmt seine Verantwortung wahr“, sagte etwa Monika Vana (Grüne).

EU-Abgeordnete Monika Hohlmeier (CSU), Vorsitzende im Haushaltskontrollausschuss des Parlaments, spricht in Bezug auf den Ratsvorschlag von „Minimalkonsens“, dem eine klare Vision für Europa fehle: „Ein zentrales Anliegen des EU-Parlaments ist es, die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeitsprinzipien an die Auszahlung von EU-Geldern zu knüpfen. Die vorliegenden Pläne sind ein Schritt in die richtige Richtung, reichen aber bei Weitem nicht aus. Wir fordern auch ein Kontrollrecht bei der Aufbau- und Resilienzfazilität. Ohne das gibt es keinen neuen EU-Haushalt.“

Ein gänzlich offenes Kapitel sind neue Eigenmittel, die in der Zukunft den Ländern die finanzielle Last abnehmen sollen. Geht es nach der Kommission, soll schon bald Geld aus Digitalsteuer, Finanztransaktionssteuer, CO2-Grenzabgabe, Plastiksteuer oder ähnlichen Quellen sprudeln. Allerdings bedarf es dafür erst recht des Einvernehmens der Länder – und das ist in weiter Ferne. Charles Michel hat zunächst nur Plastikmüll und Digitalsteuer erwähnt; alle anderen ließ er, ob aus Vorsicht oder Realismus, vorerst weg.

Bedingungen für Vergabe der Mittel

Klar scheint, dass die Vergabe der Mittel zumindest an gewisse Bedingungen geknüpft ist. Die Länder sollen eine „Reform- und Investitionsagenda“ festlegen, für die Freigabe könnte jeweils eine qualifizierte Mehrheit im Rat nötig sein. Verknüpft sind die Riesensummen auch mit den großen Zielen der EU, also etwa „grünem Deal“ oder Digitaloffensive. Die Frage ist, wie sehr sich die Länder tatsächlich von Brüssel etwas sagen lassen wollen. Für Sebastian Kurz und andere Staatschefs, etwa Mark Rutte (Niederlande), geht es auch um genau diese Frage: „Es sind noch wichtige Fragen offen bei der Umsetzung, welche Summen dafür objektiv notwendig sind und wer konkret dafür aufkommen soll“, so Kurz.

Der Gipfel beginnt heute um 10 Uhr und geht morgen weiter - möglicherweise auch über das ganze Wochenende. Doch schon jetzt laufen die Vorbereitungen für einen weiteren Sondergipfel in der letzten Juliwoche.