Beim letzten Gipfel gab es kein Ergebnis, jetzt hat man nach zähen Verhandlungen ein Drei-Säulen-Konzept entwickelt, das heute wohl beschlossen werden wird. Was genau dürfen wir erwarten?

MARTIN SELMAYR: In Europa dauert es immer ein paar Tage, bis man sich auf alle Punkte geeinigt hat, aber ein wesentlicher Auftrag des letzten Gipfels wurde erfüllt: Die Finanzminister haben sich auf das 540-Milliarden-Paket geeinigt. In der letzten Krise hat man für eine vergleichbare Lösung drei Jahre gebraucht. Es gab damals noch kein Anleihenprogramm der EZB und weder einen ESM noch ein Arbeitslosenrückversicherungsprogramm Sure. Jede Krise und jeder Gipfel bringen uns etwas weiter. Die bisherigen Beschlüsse stellen sicher, dass wir dieses Jahr nicht in eine Finanzkrise schlittern. Das war der erste Schritt. Nun stellt sich die wichtige Frage, wie wir in Europa gemeinsam und solidarisch den Wiederaufbau finanzieren, das ist die zweite Phase. Wir brauchen eine entschiedene Antwort auf den zu erwartenden Wirtschaftseinbruch von sieben bis zehn Prozent. Hier wird es Vorschläge geben. Der Gipfel ist dabei kein Abschlussgipfel, sondern ein Zwischenschritt.

Sind die Coronabonds fürs erste vom Tisch oder ist das etwas, dass man sich aus Sicht der Kommission in Ruhe noch einmal anschauen wird?

Krisenzeiten sind emotional immer stark aufgeladen, da gibt es Begriffe, die in der ersten Hitze verwendet werden und dann noch einmal überdacht werden. Werden Anleihen ein Teil der Lösung sein? Die Antwort ist sicherlich ja. Die Europäische Kommission begibt schon seit den 1970er-Jahren Anleihen an den Finanzmärkten im Namen aller Mitgliedsstaaten. Es gibt verschiedene Konstruktionen, mal mit geteilter, mal mit gemeinschaftlicher Haftung. Ob die Kommission die Anleihen begibt oder der ESM oder die EIB ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass die gemeinsame Haushaltsmacht von 27 Ländern, die sich aus dem siebenjährigen Finanzrahmen ableitet, wirksam am Finanzmarkt eingesetzt wird. Wenn wir gemeinsam auftreten, werden wir den Wiederaufbau deutlich günstiger finanzieren können. Der künftige Weg soll auf dem Gipfel heute vorgezeichnet werden. Anleihen werden dabei ein wichtiges, aber nicht das einzige Instrument sein.

Die Rede ist von einem „Wiederaufbaufonds“, der über das EU-Budget abgesichert ist. Dann müsste das aber wohl höher ausfallen als bisher? Dabei geht die Wirtschaftsleistung der Länder ja nach unten…

Da muss ich Ihnen widersprechen. Der langjährige Finanzrahmen muss gar nicht viel höher sein, sofern seine finanzielle Nutzung intelligent gestaltet wird. Es ist ja nicht so, dass beispielsweise Finanzminister Blümel alles Geld für die österreichischen Wirtschaftshilfen bar auf einem Konto liegen hat; genauso kann es auf europäischer Ebene sein. Wir haben auch jetzt schon innovative Instrumente, die es uns ermöglichen, durch Nutzung des Kapitalmarkts aus einem Euro des Steuerzahlers am Ende mindestens zehn zu machen. Wir haben 2014 im Zuge des Juncker-Plans einen Fonds aufgelegt, der einen Multiplikatoreffekt von sogar 18 gehabt hat. Aus einem Euro, den der europäische Steuerzahler aufgebracht hat, wurden 18 in der Realwirtschaft. Wenn Europa an den Finanzmärkten gemeinsam auftritt und nicht als 27 Einzelkämpfer, dann kann das Geld durch innovative Instrumente vermehrt werden. Jede Bank und jeder Finanzminister wenden diese Instrumente an. Darum geht es in dem Vorschlag, den Kommissionspräsidentin von der Leyen heute auf dem Gipfel in Grundrissen erläutern und demnächst im Detail präsentieren wird.

Der mehrjährige Finanzrahmen mit der Diskussion um die Beitragshöhe, wo Österreich zu den Bremsern gehört, wird ja aber dennoch nicht reichen?

Die Kommission wird vorschlagen, den mehrjährigen Finanzrahmen an die Corona-Pandemie anzupassen. Das heißt nicht unbedingt, dass der Topf größer werden muss, wohl aber seine Leistungsfähigkeit. Es geht darum, die geballte Finanzkraft der EU, die sich hinter dem Finanzrahmen verbirgt, optimal im Sinne des Steuerzahlers zu nutzen. Der mehrjährige Finanzrahmen ist ein Versprechen von 27 Staaten, solidarisch zu handeln und über die kommenden sieben Jahre gemeinsam rund eine Billion Euro auszugeben. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Budgetkommissar Johannes Hahn haben mehrfach betont, dass es einer raschen Einigung auf diesen Finanzrahmen bedarf, um seine Mittel zügig frei zu machen. Mit den richtigen Instrumenten können wir die eine Billion in ihrer Wirksamkeit sogar verdoppeln.

Die Kommission gibt derzeit sehr großzügig die Freigaben für Staatshilfen, Finanzminister Gernot Blümel hat diese Woche verlangt, das Beihilfenrecht überhaupt auszusetzen. EZB-Direktor Fabio Panetta warnt inzwischen davor, dass bisher schon der Binnenmarkt in Schieflage gerät. Ist das Thema am heutigen Gipfel?

Die Europäische Kommission hat neben dem Wiederaufbauprogramm den Binnenmarkt als zweites Hauptthema auf die Tagesordnung des heutigen Gipfels gesetzt. Er ist die Quelle für Wachstum und Wohlstand mit mehr als 400 Millionen Verbrauchern, der größte Binnenmarkt der Welt. Derzeit funktioniert er krisenbedingt nur begrenzt, er muss deshalb seinen Mehrwert – vor allem für exportorientierte Staaten wie Österreich – rasch wieder entfalten. Der Binnenmarkt fußt auf fairem Wettbewerb, das ist gerade für kleinere Staaten wichtig. Ich erinnere mich noch, als die österreichische Wirtschaft im Zuge der Beitrittsverhandlungen vor mehr als 25 Jahren stark auf wirksame Beihilferegeln gedrängt hat. Anlass dafür war die Sorge, von großen staatlich mitfinanzierten Mitbewerbern aus den Nachbarländern vom Markt gedrängt zu werden. EU-Recht schiebt einem Wettbewerb der Staatshaushalte aus guten Gründen einen Riegel vor. Das ist in Krisenzeiten wichtiger denn je, denn da sind die Haushalte einzelner Staaten völlig unterschiedlich beansprucht. Und innerhalb der Mitgliedsstaaten darf es auch in Krisenzeiten keine Verschiebung von Beihilfen zu jenen Unternehmen geben, die eine größere Lobby haben. Die Aussagen von Finanzminister Blümel haben wir deshalb mit Befremden vernommen. Wir haben das Beihilfenrecht ja schon im März in weiten Teilen wegen der Krise suspendiert und alle nationalen Finanzierungsvorhaben in Windeseile und ohne Auflagen genehmigt. Es gibt keine ausformulierte Notifizierung aus Österreich, welche die Kommission in der Krise abgelehnt hat. Im Gegenteil, es gab stets und tagtäglich volle Unterstützung. Wichtig ist uns aber, dass die Coronakrise nicht zur Entschuldigung dafür wird, das Gleichgewicht zwischen Unternehmen zugunsten der Großen – und zu Lasten der Kleinen – zu verlagern. Wir haben da viel Unterstützung aus allen Mitgliedsstaaten. Keiner will, dass im Nachbarland plötzlich die Füllhörner allein zugunsten der nationalen Platzhirsche aufgehen.

Stichwort Nachbarland: Diese Woche gab es den Vorschlag von Ministerin Elisabeth Köstinger, über eine deutsch-österreichische Grenzöffnung nachzudenken, um den Tourismus in Gang zu bringen. In Belgien zum Beispiel möchte man die Strände zugänglich machen, aber gegebenenfalls nur für Inländer oder gar nur für Bewohner Flanderns. Die Kommission hat zwar Leitlinien erarbeitet, aber irgendwie macht das alles den Eindruck, die Länder tun inzwischen, was sie wollen. Kann es hier wirklich bilaterale Lösungen geben?

Die Kommission wird sich das sehr genau ansehen. Eine Grenzöffnung muss ja immer von beiden Seiten ausgehen. Derzeit werden Reisen nach Österreich von Deutschland noch als Gesundheitsrisiko eingestuft. Laut Robert-Koch-Institut sind 68 Prozent der deutschen Coronafälle direkt oder indirekt über Österreich infiziert worden. Die Debatte ist daher verfrüht. Die WHO hat auf die geringe Zahl der Infizierten weltweit hingewiesen, zwischen zwei und drei Prozent. Eine zweite Welle kann also jederzeit ausbrechen. Sehr viel Tourismus wird daher in diesem Sommer nicht stattfinden können. Wir finden es aber gut, wenn Nachbarstaaten miteinander sprechen, um pragmatische Lösungen auszuloten, etwa wenn es um die Grenzpendler geht. Man muss aber stets objektiv vorgehen und sollte weder den Pass des Reisenden noch dessen Geldbeutel als Kriterium heranziehen. Die Frage muss immer sein, ob jemand aus einer gefährdeten Region kommt. Vorrangig ist und bleibt der Gesundheitsschutz.