Mit steinerner Miene betrat Recep Tayyip Erdogan am Montagabend das Brüsseler Ratsgebäude. Nur kurz, im Blitzlichtgewitter an der Seite von Ratspräsident Charles Michel, entkam dem türkischen Präsidenten ein Lächler. Drinnen wartete bereits Kommissionschefin Ursula von der Leyen auf den Gast, der mit seinen Eskapaden ganz Europa unter Druck setzt; man könnte auch sagen: erpresst.

Stunden davor hatte sie noch von einem „tiefen Dilemma“ gesprochen und gemeint, man solle sich nicht zu viel erwarten: „Heute Abend beginnt der Dialog, das ist der Anfang.“ Dabei hätte dieser Tag ganz anders verlaufen sollen: 100 Tage neue Kommission galt es zu bilanzieren und Leuchtturmprojekte wie der „Green Deal“ oder die für heute geplante Vorstellung der neuen Industriestrategie hätten glanzvoll in die Zukunft weisen können. Doch die Welt steht im Bann des Coronavirus und Europa unter dem neuen Migrationsdruck.

Erdogan hatte tagsüber einen militärischen Verbündeten besucht, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Dieser sagte der Türkei weitere Unterstützung zu und rief in Erinnerung, dass das Land die Folgen der Syrienkrise voll zu spüren bekomme. Erdogan erinnerte daran, dass die Grenze zu Syrien auch die südöstliche Nato-Grenze sei und zeigte sich verärgert, dass er jetzt als Auslöser der Migrationskrise gezeichnet werde.

Ursula von der Leyen hatte am Vormittag klare Distanz zur Entscheidung Griechenlands ausgedrückt, das Asylrecht für einen Monat auszusetzen, sie lehnt auch den Einsatz grober Gewalt ab. Gleichzeitig hatte sie betont: „Die Grenzen bleiben zu.“ Griechenland hat begonnen, den Grenzzaun zur Türkei massiv zu verstärken. Die EU hat in mehreren Tranchen Hilfe zugesagt: 60 Millionen Euro direkt nach Idlib, zweimal 350 Millionen als Hilfe für die Flüchtlingsbetreuung in Griechenland. Wie berichtet, sollen weitere 500 Millionen Euro bereitgestellt werden, die zusätzlich zu den bisher vereinbarten sechs Milliarden in die Türkei fließen sollen.

Nach dem Treffen stand fest: der bestehende Vertrag mit der Türkei soll von beiden Seiten Punkt für Punkt überarbeitet werden, auf EU-Seite wurde der Außenbeauftragte Josep Borrell damit betraut. In den nächsten Tagen, so Charles Michel, soll der Dialog mit der Türkei neu aufgesetzt werden, man will auch die Mitgliedsländer an Bord holen. Wenn es zu einer Annäherung komme, würde auch der Flüchtlingsdruck an der Grenze zurückgehen. Ursula von der Leyen sagte, die Kommunikationskanäle mit der Türkei seien wieder aktiv. Jetzt gehe es darum, die nötigen Arbeitsbereiche abzustecken und gegenseitig die fehlenden Punkte auszumachen.

Mehrere Länder wie Frankreich, Portugal, Luxemburg, Finnland und Deutschland haben sich inzwischen bereit erklärt, vor allem unbegleitete Kinder aus den Flüchtlingslagern aufzunehmen. Österreich verweigert das. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis war am Montag in Deutschland zu Gast, am Dienstag trifft er in Wien Bundeskanzler Sebastian Kurz.