Der Erpressungsversuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, ausgetragen auf dem Rücken der Ärmsten, hat Europa in Alarmbereitschaft versetzt. Doch die Drohung, eine neue unkontrollierbare Flüchtlingswelle wie jene 2015 auszulösen, greift nicht. Obwohl die Mitgliedsländer die Asylfrage noch immer nicht geklärt haben und in fast allen Fragen säumig sind, gibt es viele Anhaltspunkte dafür, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

1 Auslöser. 2015 haben sich innerhalb kurzer Zeit Hunderttausende Menschen gleichzeitig auf den Weg nach Europa gemacht, um den Schrecken des Krieges in Syrien zu entkommen – mit ihnen viele andere, die die Gelegenheit zur Flucht nutzten. Darauf war die EU nicht vorbereitet. Die schiere Menge der Asylsuchenden ließ die Dämme brechen, die große Zahl der Menschen war nicht mehr unter Kontrolle zu bringen. Diesmal ist der Auslöser der Krise kaltes politisches Kalkül, klar, definierbar. Erdoğan ließ die Flüchtlinge gezielt an die griechische Grenze bringen.

2 Kontrolle. Seit 2015 haben Frontex (Grenzschutzagentur) und die Mitgliedsländer alle Flüchtlingsströme sehr genau unter Beobachtung, es gibt detaillierte Statistiken und gutes Zahlenmaterial, damit weit weniger Überraschungspotenzial und gute Früherkennung.

3 Grenzschutz. Bis heute gibt es an österreichischen oder deutschen Grenzen Kontrollen, Länder wie Bulgarien oder Ungarn haben ihren Grenzschutz nach 2015 massiv mit Zaunanlagen ausgebaut. Der Weg, der damals noch ungehindert möglich war, ist heute nur schwer zu nutzen. Auch Beitrittskandidaten wie Bosnien werden sich hüten, der EU Grund für Streit zu liefern, und werden ebenfalls streng agieren.

4 Sofortmaßnahmen. Griechenland wurde bisher in der Flüchtlingsversorgung auf den Inseln von der EU im Stich gelassen, das hat sich seit dem Wochenende schlagartig geändert. Die Präsidenten aller drei EU-Institutionen waren gestern im griechisch-türkischen Grenzgebiet und sagten eine Soforthilfe in Höhe von bis zu 700 Millionen Euro zu. Gleichzeitig wird das Frontex-Kontingent dort deutlich verstärkt, mit Personal und Gerät. Auch Österreich schickt Einheiten. Die Außengrenzen im Osten Europas haben plötzlich doch höchste Priorität – es ist politische Ironie, dass das ausgerechnet einem Mann wie Erdoğan zu verdanken ist.

5 Vertrag. Wie man es auch dreht und wendet: Der Vertrag mit der Türkei hat in den letzten vier Jahren relativ gut funktioniert und könnte das auch weiterhin tun. In Brüssel rechnet man bereits durch, wo man weitere Mittel (die Rede ist von 500 Millionen Euro) auftreiben kann, nachdem Hilfsorganisationen in der Türkei bisher sechs Milliarden Euro zugesprochen bekamen. Mehr als 3,5 Millionen Syrer wurden in der Türkei aufgenommen. Vieles weist darauf hin, dass sie dortbleiben wollen, in der Nähe ihrer Heimat. Schulen, Betreuungseinrichtungen und Infrastruktur wurden mit dem Geld, das nicht an die Regierung ging, errichtet. Unklar ist, was passiert, wenn Erdoğan tatsächlich nicht Geld will, sondern etwa militärischen Beistand.

6 Wirtschaft. Auch wenn der Ruf laut wird, die wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei auf Eis zu legen – gerade diese Verknüpfung macht es möglich, etwa Sanktionen zu setzen und so Druck auszuüben. Ein weiterer Faktor, der in dieser Form 2015 nicht gegeben war.

7 Mittelmeer. Die Alternativrouten über das Mittelmeer sind, wenn auch die Maßnahmen umstritten sind, weitestgehend unter Kontrolle. Dafür sorgt auch die Kooperation mit nordafrikanischen Ländern wie Libyen, Marokko oder Ägypten.

8 Druck. Zumal die EU derzeit über das künftige Budget verhandelt, ist das Thema Migration hoch priorisiert. Eine drohende Eskalation könnte den Druck erhöhen, endlich Reformen einzuleiten.