Plötzlich kommt alles ins Rollen: Vor dem heute beginnenden Herbstgipfel der EU und knapp zwei Wochen vor dem geplanten Austrittsdatum Großbritanniens aus der EU könnte sich eine Lösung im jahrelangen Streit um die Ausstiegsmodalitäten abzeichnen. Nach neuen, tagelangen Verhandlungen wurden die Mitgliedsstaaten gestern Abend über den Stand der Dinge informiert. Darum geht es:

1. Was ist so neu, dass man plötzlich von „Durchbruch“ spricht?
Auf Expertenebene herrscht dem Vernehmen nach Einigkeit über die Zollregelung für Nordirland, die Mitspracherechte der nordirischen Volksvertretung und es gäbe britische Zusagen, EU-Umwelt- und Sozialstandards nicht zu unterbieten. Nicht geklärt war indes die Zusammenarbeit bei der Umsatz- beziehungsweise Mehrwertsteuer. Eine Gesamteinigung stand deshalb am Abend noch aus.

Die Hauptstreitfrage drehte sich bisher um den berühmten „Backstop“, eine Notfalllösung für Irland, die, vereinfacht gesagt, ganz Großbritannien so lange in einer Zollunion mit der EU gelassen hätte, bis eine Lösung für die neue Außengrenze in Irland gefunden worden wäre. Der Vorschlag, den Boris Johnson nun machte, sieht einen Sonderstatus für Nordirland vor, das allein in der EU-Zollunion bleibt und trotzdem auch im britischen Binnenmarkt.

2. Wie soll das gehen?
Der Plan ist, zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland elektronische Warenkontrollen durchzuführen. Im Detail ist das kompliziert; unklar ist etwa noch die Verarbeitung von Waren, wenn etwa Zucker aus Kuba, der nicht für die EU bestimmt ist, nach Nordirland kommt und dann in Form von Limonade doch in die EU eingeführt wird.

3. Hätte man auf diese Lösung nicht früher kommen können?
Das ist man, bereits im Februar 2018. Damals war das aber von den Briten abgelehnt worden, weil sie keine Zollkontrollen für die EU im eigenen Land haben wollten. Nun hat Boris Johnson umgeschwenkt – vermutlich aus einem innenpolitischen Kalkül. Das könnte auch schief gehen: Sein Koalitionspartner hat Donnerstagfrüh bekanntgegeben, dem Pakt aktuell nicht zustimmen zu können.

4. Muss nun also doch der ausverhandelte Vertrag geöffnet werden, was die EU ja bis zuletzt strikt verweigert hatte?
Nein. Es geht lediglich um ein Kapitel mit zehn Seiten, die man jetzt entsprechend adaptieren muss.

5. Also können die Briten tatsächlich mit 31. Oktober aussteigen?
Möglich ist das, sicher nicht. Es könnte sein, dass es nun noch zu einer „technischen Verlängerung“ um einige Wochen kommt, um die Rechtstexte verfassen zu können.

6. Was hat das mit dem EU-Gipfel zu tun?
Heute soll alles den Staats- und Regierungschefs präsentiert werden, die EU-27 müssen zustimmen. Boris Johnson muss es im Unterhaus durchbringen (am Samstag) und das EU-Parlament muss zustimmen. Wie man hört, soll die nordirische DUP, wieder Zünglein an der Waage, mit Milliardenzahlungen geködert werden.

7. Und Großbritannien wäre dann ab 1. November ohne Rechte und Pflichten draußen?
Nein, denn damit gäbe es ja einen Austritt mit einem Vertrag. Dieser sieht nicht nur eine Übergangszeit bis Ende 2020 vor – es muss ja nun die künftige Zusammenarbeit erst einmal im Detail festgelegt werden –, sondern auch ein Weiterlaufen einer ganzen Reihe von Programmen, etwa im Bereich der Wissenschaft. Solange bleiben die Briten auch als EU-„Nettozahler“ erhalten.