Unumwunden gibt Ursula von der Leyen zu, dass ihr etwas zu hoch ist: „Ich habe nie wirklich verstanden, warum die Dublin-Regelung mit der einfachen Gleichung beginnt: Wo ein Migrant zuerst europäischen Boden betritt, muss er bleiben.“

Migration finde, so die Überlegung, hauptsächlich auf dem See- oder Landweg statt. Somit sind es immer die gleichen Länder, in denen die Flüchtlinge ihren EU-Asylantrag stellen müssen. Staaten wie Bulgarien oder Ungarn haben mit Zäunen reagiert, Küstenländer haben es schwerer. Von der Leyen, designierte EU-Kommissionspräsidentin, hat das Thema nun zur Chefsache erklärt. Es besteht dringender Handlungsbedarf; zwar ist die große Flüchtlingswelle von 2015 abgeebbt, aber der Strom kann wieder zunehmen – wenn nicht aus dem Nahen Osten, dann aus Afrika. Im ersten Halbjahr wurden rund 4000 Menschen von der libyschen Küstenwache zurückgebracht, 2500 kamen nach Italien. In Griechenland kamen im selben Zeitraum knapp 14.000 an. Das Mittelmeer bildet, wie von der Leyen sagt, „eine der tödlichsten Grenzen der Welt“. 17.000 Menschen haben bei Fluchtversuchen bereits ihr Leben gelassen. Der Umgang mit den Asylwerbern hat längst einen Keil zwischen die EU-Länder getrieben; die Mittelmeeranrainer, vor allem Italien, Griechenland und Malta, fühlen sich vom Rest alleingelassen. Ihr Protest wird auch zur politischen Munition, wenn etwa der italienische Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini mit allen plakativen Mitteln die Ankunft von Schiffen verhindert.

Auf der anderen Seite sind es Nicht-Regierungsorganisationen und private Betreiber von Rettungsschiffen, die für Schlagzeilen sorgen und das Thema damit in der Öffentlichkeit so hochkochen, dass eine emotionsbefreite, sachliche Debatte in weite Ferne rückt. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel spricht sich nun für „zeitlich befristete Mechanismen“ bis zur Behebung des „Dublin-Konstruktionsfehlers“ aus. Schließlich könne nicht bei jedem einzelnen Schiff mit Flüchtlingen neu verhandelt werden.

Das stimmt. Bloß funktioniert ein freiwilliger Umverteilungsmechanismus, wie er seit Jahren diskutiert wird, in der Praxis nicht. Zum einen, weil die Asylwerber kaum gezwungen werden können, sich innerhalb der EU nicht vom Fleck zu bewegen, hauptsächlich aber, weil viele Länder sich daran nicht beteiligen wollen. Besonders die östlichen Mitglieder, wie etwa Polen oder Ungarn, legen sich quer und werfen der EU vor, den Schutz der Außengrenzen viel zu sehr vernachlässigt zu haben. Im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ räumte Ursula von der Leyen gestern auch ein, dass man etwa das Argument der Polen, bisher rund 1,5 Millionen Ukrainer bei sich aufgenommen zu haben, nicht vernachlässigen dürfe. Merkel hält Sanktionen gegen störrische Mitgliedsländer nicht für angebracht: „Die Keule am Verhandlungstisch hat sich nicht bewährt.“

Bündnis der Aufnahmewilligen

Die diese Woche beim EU-Außenministerrat in Helsinki von Frankreich und Deutschland vorgebrachte Idee eines „vorübergehenden Solidaritätsmechanismus“ fand nur geringes Echo. Eine Gruppe von sechs bis elf Ländern sollte sich im Voraus zur Übernahme ankommender Asylwerber bereit erklären. Doch würden die Asylverfahren weiterhin im Ankunftsland stattfinden und so muss man Salvini wohl oder übel recht geben, wenn er dagegen wettert, dass auch mit einem „Bündnis der Aufnahmewilligen“ wieder einmal Italien und Griechenland auf der Strecke bleiben – es müssten auch andere Mittelmeerländer wie Spanien oder Frankreich die Häfen öffnen.

Im Ö-1-„Morgenjournal“ konnte der Migrationsexperte Gerald Knaus (European Stability Initiative) dem Vorschlag allerdings viel abgewinnen, es werde eine „praktikable Lösung“ herauskommen. Knaus ist Architekt des Türkei-Abkommens, mit dessen Hilfe Millionen von Flüchtlingen von Europa ferngehalten wurden. Gestern gab die Kommission dafür ein weiteres Hilfspaket von 1,4 Milliarden Euro frei.

Beschlossene Maßnahmen wie die Aufstockung von Frontex erscheinen sinnvoll, müssen aber mit tiefer gehenden Änderungen, etwa massiver Hilfe für Afrika, einhergehen. Drittländer wie Libyen sind kein akzeptabler Partner, solange dort in den Lagern schreckliche Bedingungen herrschen und die politische Lage verworren ist. Und immer noch dauern Asylverfahren ewig lange – das muss auch ohne Dublin-Reform zu lösen sein.