Die Woche der Entscheidung – schon einmal gab es sie, im Dezember. Die britische Premierministerin Theresa May sagte die damals geplante Abstimmung im Unterhaus über den Brexit-Austrittsvertrag in letzter Sekunde ab, weil klar wurde, dass der Deal keine Mehrheit finden würde. Morgen, Dienstag, soll es nun einen zweiten Anlauf geben. Doch geändert hat sich seither kaum etwas. Im Gegenteil: Nach dem EU-Gipfel im Dezember in Brüssel hatten sich die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Mitgliedsländer vom zunehmend erratischen Verhalten Theresa Mays irritiert gezeigt und eine bereits für die Schlusserklärung vorgesehene Formulierung wieder zurückgezogen; der Satz hätte es ermöglicht, unmittelbar vor dem nun anstehenden Votum noch das eine oder andere formale Entgegenkommen zu definieren und damit zumindest ein Signal zu setzen. Stattdessen aber wurde das Chaos nur größer und der Ausgang der historischen Abstimmung – und damit die weitreichenden Folgen – ist ungewisser denn je.

Vieles deutet darauf hin, dass der Vertrag abgelehnt wird. Dabei, so drückt es eine Brüsseler Diplomatin aus, ist das mühsam erarbeitete, 585 Seiten starke Werk ja nicht mehr als eine Willensbekundung; tatsächlich handelt es sich bloß um das Abstecken jenes Rahmens, innerhalb dessen in den nächsten beiden Jahren (oder, wie in Aussicht gestellt, bis zu vier Jahren) die rechtlichen Details ausverhandelt werden. Doch nicht einmal das scheint möglich zu sein, laufen doch im Unterhaus selbst die Gräben kreuz und quer. EU-Kommissar Johannes Hahn sagte vor wenigen Tagen im Gespräch mit österreichischen Journalisten, er sehe drei Gruppen in Westminster: eine für den harten Brexit, die andere für den Deal, der ausgehandelt wurde, und die größte Gruppe, jene, die gegen den harten Brexit sei und gegen den Deal. Man könne nur auf die Fähigkeit der Briten zum Pragmatismus hoffen.

Nervosität wächst

Während man in Brüssel und in den Mitgliedsländern die Notmaßnahmen für einen Austritt ohne Vertrag längst durchspielt und sich vorbereitet zeigt, wächst in Großbritannien die Nervosität. Theresa May sagte gestern in einem Beitrag für den „Sunday Express“, eine Ablehnung des Vertrages sei „ein Bruch des Vertrauens in unsere Demokratie“. Es sei Zeit, „die Spielchen zu beenden und das zu tun, was für unser Land wichtig ist“. Ihr zur Seite sprang Wirtschaftsminister Greg Clark, der in „Die Welt“ sagte, er „hoffe, dass die Abgeordneten in den kommenden Tagen aufhören, das Geschehen vom Spielfeldrand aus zu kritisieren und stattdessen Verantwortung für die Zukunft des Landes übernehmen“. Sollte der Vertrag durchfallen, hätte das verheerende Konsequenzen auch für künftige Generationen.

Immer noch gilt die Backstop-Lösung als Hauptfallstrick. Diese würde Nordirland vorübergehend in der Handelsunion mit der EU belassen, bis die offenen Fragen geklärt sind. Die EU-27 blieben bisher auf der harten Linie, wonach ein Aufschnüren des Vertrags nicht mehr infrage kommt. Wobei man betont, dass der Backstop ja ohnehin nur eine Notlösung sei, die niemand wirklich will und die allein deshalb niemals dauerhaft sein könne.

Eine letzte Möglichkeit, so die jüngste Spekulation, wäre, dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker heute in einem Brief an May festhält, dass die Handelsgespräche beschleunigt werden (damit der Backstop nur ja nicht in Kraft tritt) und gleichzeitig EU-Ratspräsident Donald Tusk zusichert, dass es der erklärte Wille der EU-27 ist, bis spätestens Ende 2020 alles unter Dach und Fach zu haben, spätestens aber Ende 2021 die Zustimmung aller übrigen Staaten zu haben; damit wäre der Backstop, falls er also aktiviert werden müsste, längstens ein halbes Jahr gültig.

Ob das reicht? Vom zweiten Referendum über eine Verschiebung des Austrittstermins (29. März) bis zur Annahme oder endgültigen Ablehnung des Vertrages ist alles möglich. Auch ein Sturz Theresa Mays und Neuwahlen. Und sogar ein „Exit vom Brexit“.