"Österreich ist sich durchaus bewusst, dass Binnengrenzkontrollen nur als letztes Mittel eingesetzt werden sollen, sieht jedoch in der gegenwärtigen Lage und nach Analyse der Entwicklungen keine andere Möglichkeit.“ Ein Brief mit diesen Worten erreichte gestern alle maßgeblichen Stellen in Brüssel. Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) hat entschieden, die Binnengrenzkontrollen an der Grenze zu Slowenien und zu Ungarn um weitere sechs Monate zu verlänger, Zusätzlich, so heißt es, behalte er sich vor, bis zum Ende der österreichischen Ratspräsidentschaft, also bis Jahreswechsel, Binnengrenzkontrollen „anlassbezogen, temporär, punktuell und selektiv“ zu allen Nachbarstaaten durchzuführen.

Begründet wird die Maßnahme unter anderem damit, dass zum einen nach wie vor Terroraktivisten und Waffenlieferungen über die Balkanroute kommen können, dass aber auch weitere Flüchtlingsströme nicht auszuschließen seien: So sollen in Bosnien-Herzegowina in den letzten neun Monaten rund 10.000 „irreguläre Migranten“ registriert worden sein, an der griechisch-türkischen Landesgrenze habe es zuletzt um 300 Prozent mehr Ankünfte gegeben. Auf Anfrage nennt das Innenministerium weitere Zahlen. So seien die Ankünfte in Griechenland um 60 Prozent (37.136) gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Auf den fünf Hot Spot-Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos habe es bis Ende September 23.200 Anlandungen gegeben, dort halten sich im Augenblick 19.300 Migranten auf.

"Hohe Zahl an Aufgriffen"

Dass in dem Schreiben auch die Rede davon ist, dass es nach wie vor eine „zu hohe Zahl von Aufgriffen illegal eingereister Personen und Asylansuchen“ gebe, verwundert – und verärgert das Nachbarland Slowenien. Nach dessen Auswertung haben österreichische Sicherheitskräfte in den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres insgesamt 15 Personen nach Slowenien zurückgeschickt, im Gesamtjahr 2017 waren es 24 Personen gewesen. Der neue slowenische Premier Marjan Sarec kritisierte die Kontrollen bei seinem Brüssel-Aufenthalt am Mittwoch. „Wir sehen das als Zeichen des Misstrauens und Akt, der nicht im Einklang mit europäischen Maßstäben ist“, sagte Sarec und betonte, dass Slowenien seine Schengen-Außengrenze immer gut geschützt habe, auch am Höhepunkt der Migrationskrise. Im Innenministerium argumentiert man mit dem „Pull-Faktor“: „Der Verzicht auf Binnengrenzkontrollen würde insbesondere von Schlepperorganisationen als falsches Signal verstanden werden, woraufhin diese ihre Aktivitäten intensivieren würden“, heißt es dort.

In Brüssel ist man nicht besonders erfreut darüber, weil man durch die ständige Fortführung der Binnenkontrollen das Schengen-Konzept in Gefahr sieht. Die Kommission hat aber nicht viele Möglichkeiten; man könne, so heißt es, zwar eine negative Stellungnahme abgeben, aber dann folgt zunächst einmal ein Konsultationsprozess mit dem betreffenden Land.

Außer Österreich hat bisher Frankreich angekündigt, die Kontrollen weitere sechs Monate durchzuführen. Aktuell gibt es diese Kontrollen auch noch in Deutschland, Dänemark und Schweden sowie das nicht zur EU gehörende Norwegen.

Sondersitzung ohne Kurz

Während Beifall von FPÖ-Europaabgeordneten Harald Vilimsky kommt ("Solange die EU-Außengrenze nicht effektiv geschützt wird, ist an einen Wegfall der Binnengrenzkontrollen nicht zu denken. Es wäre das falsche Signal, unsere Grenzen für Personen aus aller Herren Länder zu öffnen und damit eine weitere Einwanderung in unser Sozialsystem zu riskieren“), reagieren die Neos mit der Einberufung einer Sondersitzung des Nationalrates am kommenden Freitag. "Wir lassen es nicht zu, dass die Bundesregierung hinterrücks und ohne öffentliche Debatte unsere Grundfreiheiten einschränkt", so Neos-Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger. "Grenzkontrollen sind eine äußerste Notfallmaßnahme. Kickl kann nicht erklären, was ein solcher Notfall heute - im Jahr 2018 - sein soll. Die Zahlen zu den illegalen Grenzübertritten sind verschwindend gering und eine lückenlose Kontrolle findet ohnehin nicht statt - zumal man sich über Kontrollen an der österreichisch-italienischen Grenze aus Wirtschaftsgründen Gott sei Dank nicht drübertraut."

An der Sondersitzung wird zumindest Bundeskanzler Sebastian Kurz nicht teilnehmen. Er ist wegen Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Ratsvorsitz (dem Gipfel in Brüssel) verhindert und lässt sich durch Europaminister Gernot Blümel vertreten.