Die republikanische Sinn Fein hat nach ihrem historischen Erfolg bei der irischen Parlamentswahl den Regierungsanspruch gestellt. "Ich werde mit jedem reden und jedem zuhören", sagte SF-Chefin Mary Lou McDonald am Sonntagnachmittag in Dublin. Sie habe bereits mit den Grünen, den Sozialdemokraten und der Linkspartei "Solidarity - People Before Profit" über die Regierungsbildung gesprochen.

Nach dem politischen Erdbeben bei der Parlamentswahl am Samstag steht Irland vor einer schwierigen Regierungsbildung. Während die beiden Traditionsparteien Fine Gael (FG) und Fianna Fail (FF) mit deutlichen Verlusten rechnen mussten, deuteten erste Trends nach Beginn der Stimmenauszählung am Sonntag auf einen historischen Sieg der republikanischen Sinn Fein (SF).

Wie die "Irish Times" berichtete, dürfte die SF erstmals mehr als 30 Mandate im 160-köpfigen Parlament bekommen. Damit würde die für eine Wiedervereinigung Irlands kämpfende Partei ihr Rekordergebnis des Jahres 2017 (22 Mandate) deutlich übertreffen. Die FG von Ministerpräsident Leo Varadkar und die FF von Oppositionsführer Micheal Martin dürften hingegen Mandate verlieren. 2017 hatte Varadkars FG 50 Sitze erreicht und daraufhin eine von der FF (44 Mandate) geduldete Minderheitsregierung gebildet.

Starke Grüne

Ein starkes Ergebnis wurde auch den Grünen vorhergesagt, die erstmals eine zweistellige Mandatsanzahl im Dail (Parlament) erreichen könnten. Im Jahr 2017 war ihnen mit zwei Mandaten der Wiedereinzug ins Parlament gelungen.

Die Grünen hatten aber vor dem Hintergrund der Klimakrise auf einen deutlicheren Erfolg gehofft. Nach ihrem spektakulären Erfolg bei der Europawahl, als sie zwei der 13 irischen Mandate gewannen, wurden sie bereits als Juniorpartner in der neuen Regierung Varadkar gehandelt.

Varadkar selbst hatte der APA im November am Rande des Kongresses der Europäischen Volkspartei (EVP) in Zagreb gesagt, dass die Grünen "Teil der nächsten Regierung werden" könnten. Varadkar meinte, Türkis-Grün könnte zu einem europäischen "Prototyp" werden. "Wir beobachten das", sagte Varadkar mit Blick auf das von seinem "guten Kollegen" Sebastian Kurz gezimmerte Regierungsbündnis von ÖVP und Grünen.

Politisches Neuland

Doch statt in die Fußstapfen von Kurz zu treten, könnte Varadkar nun selbst politisches Neuland betreten und das erste Regierungsbündnis einer konservativen und linken Partei in Europa bilden. Politische Beobachter in Irland gehen nämlich davon aus, dass bei der Regierungsbildung kein Weg an der Linkspartei SF vorbeiführen wird, obwohl sowohl Varadkar als auch Oppositionsführer Martin ein Bündnis mit ihr ausgeschlossen haben.

Der Brexit spielte bei der Parlamentswahl so gut wie keine Rolle. Das ergab eine Nachwahlbefragung im Auftrag mehrerer irischer Medien. Nur ein Prozent der Wähler gab demnach an, der Brexit habe ihre Entscheidung beeinflusst, berichtete der irische Rundfunksender RTE am Sonntag. Den Wählern am wichtigsten waren die Themen Gesundheit, Wohnen und Pension. Profitiert hat davon vor allem die Sinn Fein unter der Führung von Parteichefin Mary Lou McDonald.

Die Nordirland-Frage

Die Nordirland-Frage war bei den Brexit-Verhandlungen zwischen London und Brüssel einer der Hauptstreitpunkte, da die Grenze zwischen Irland und Nordirland durch den Brexit de facto zu einer Landgrenze zwischen der EU und Großbritannien wurde. Das Karfreitagsabkommen von 1998, mit dem der jahrzehntelange blutige Nordirland-Konflikt überwunden wurde, sieht allerdings eine offene Grenze vor.

Sinn Fein stellte insgesamt nur 42 Kandidaten für das Parlament mit 160 Abgeordneten auf. Als einzige Partei tritt sie in beiden Teilen Irlands an. Eine Regierung unter der Führung Sinn Feins gilt als extrem unwahrscheinlich. Fine Gael und Fianna Fail haben eine Zusammenarbeit mit der Sinn Fein, dem einstigen politischen Flügel der irischen Untergrundarmee IRA, ausgeschlossen. Die Partei habe sich "nicht von ihrer blutigen Vergangenheit reingewaschen", sagte der Chef von Fianna Fail, Micheal Martin, am Vortag der Wahl.

Varadkar, seit fast drei Jahren der erste offen homosexuelle Regierungschef des einst streng katholischen Landes, steht für ein neues, modernes Irland. Der Sohn einer irischen Krankenschwester und eines indischen Arztes hatte im Wahlkampf seine starke Rolle in den Brexit-Verhandlungen zwischen London und Brüssel in den Mittelpunkt gestellt.