Im monatelangen Ringen um das 1,8 Billionen Euro schwere EU-Mehrjahresbudget sollte am Montag Nachmittag ein Schlusspunkt gesetzt werden. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hatte  eine Abstimmung der 27 Regierungen auf Botschafterebene angesetzt, nachdem letzte Woche eine Einigung mit dem Europaparlament erzielt werden konnte. Ungarn und Polen drohten jedoch schon im Vorfeld mit einem Veto wegen des geplanten Rechtsstaatsmechanismus. Die Regierungen Ungarns und Polens kritisieren, dass die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft sei.

Nun ist es auch passiert: Ungarn und Polen legten ihr Veto ein. Die beiden Länder setzten genau dort an, wo sie konnten: Sie machten gestern ihre Drohung wahr und blockierten in Brüssel bei der ersten Abstimmungsrunde auf Botschafterebene das langjährige Budget der EU und den Wiederaufbaufonds.

Dabei haben Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki tatsächlich gar nichts gegen das 1,8-Billionen-Euro-Paket, das beiden Ländern hohe Milliardenbeträge beschert – es ist bloß so, dass sie mit ihrem Nein eine ganz andere Klausel aushebeln wollen: die Verknüpfung der EU-Gelder mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Sowohl Polen als auch Ungarn stehen auf der schwarzen Liste der EU, gegen beide laufen Vertragsverletzungsverfahren und sogenannte Artikel-7-Verfahren, weil sie Grundwerte der Europäischen Union, wie etwa Unabhängigkeit der Justiz oder Pressefreiheit, unterminieren würden.

Eine Frage der Mehrheit

Für diese Verknüpfung, die mit den Stimmen beider Länder beim „historischen“ Gipfel Ende Juli beschlossen wurde, reicht eine qualifizierte Mehrheit. Dieser Punkt wurde gestern als erster abgestimmt und ging wie zu erwarten glatt durch. Prompt machten daraufhin die beiden Länder ihre Drohung wahr und blockierten die Abstimmung über das langjährige Budget und den 750-Milliarden-Euro-Aufbaufonds – diese beiden Punkte bedürfen der Einstimmigkeit. Es geht dabei auch um die Erhöhung der Eigenmittel-Obergrenze, ohne die das Rückzahlungskonstrukt für die Schulden nicht funktioniert. Im Vorfeld hatte die ungarische Justizministerin Judit Varga sogar noch versucht, den Spieß umzudrehen: „Es ist nicht Ungarn, das hier Erpressung betreibt.“

Wie es nun weitergeht, ist unklar. So eine Situation habe man noch nie gehabt, sagte ein EU-Diplomat nach der Sitzung. In zwei Tagen, am Donnerstag, gibt es den nächsten außertourlichen Video-Gipfel der Staats- und Regierungschefs, der eigentlich der Koordination bei den Covid-Maßnahmen gewidmet ist; höchstwahrscheinlich muss nun auch die Blockade des Budgets auf die Tagesordnung.

Eine Möglichkeit, Finanzrahmen und Hilfspaket zu retten, wäre die völlige Herausnahme des Rechtsstaatsprinzips – ein Szenario, in dem Ungarn und Polen gewonnen hätten und das Ansehen des Rats im Keller wäre. Setzt man auf Zeit, hat zumindest Ungarn gute Karten, weil das Land zu den Gewinnern der Sofortmaßnahmen im Frühjahr zählt (obwohl kaum betroffen, lukrierte Ungarn 5,6 Milliarden Euro) und nun die wirtschaftlichen Corona-Folgen weniger schwer wiegen als in anderen Ländern. Polen hingegen wartet dringend auf den Geldregen. Gibt es keinen Kompromiss, startet das neue Jahr mit einem Nothaushalt und die Coronahilfen verzögern sich. Das gesamte Paket muss auch noch durch 23 nationale Parlamente ratifiziert werden, das geht auch nicht in wenigen Tagen. Die Auszahlung der ersten Mittel sollte eigentlich im zweiten Quartal 2021 möglich gemacht werden, das ist nun ernsthaft in Gefahr.

Dass der Konditionalitätsmechanismus aufgegeben wird, gilt als nahezu ausgeschlossen. In dem Fall dürften nämlich EU-Länder wie die Niederlande oder das Europaparlament das Finanzpaket aus Protest blockieren.

Viele kritische Reaktionen

Aus Österreich kam heftige Kritik: „Polen und Ungarn stürzen die EU am Höhepunkt einer Gesundheits- und Wirtschaftskrise in eine politische Krise“, so SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder.Monika Vana (Grüne) sagte, Orbán zeige, dass er ein wortbrüchiger Antieuropäer sei. Claudia Gamon (Neos) sprach von „beispielloser Verantwortungslosigkeit“. Auch für Angelika Winzig (ÖVP) ist das Veto unverantwortlich: „Wer die Grundwerte einhält, braucht nichts zu befürchten.“

"Polen und Ungarn scheint jedes Mittel recht, um die EU sprengen und erpressen zu wollen. Das ist skandalös und nicht europäisch", schrieb der Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), auf Twitter. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze in Europa gefordert. "Da sollten wir sehr klar bleiben. Jetzt wird Steuergeld in einem noch nie da gewesenen Ausmaß in Anspruch genommen, da sollten wir genau hinschauen, dass unsere Werte eingehalten werden", sagte Kurz am Montag in einem virtuellen Auftritt beim Wirtschaftstag des Wirtschaftsrates der CDU. 

Mitgliedsstaaten verantwortlich

EU-Budgetkommissar Johannes Hahn hat nach dem Veto Polens und Ungarns gegen das 1,8 Billionen Euro schwere Finanzpaket die Mitgliedstaaten zu Verantwortlichkeit gemahnt. Hahn zeigte sich am Montag in einem Tweet "enttäuscht", dass es unter den EU-Botschaftern noch keine Einigung auf das Paket gegeben habe.

"Ich bitte die Mitgliedsstaaten dringend, politische Verantwortung zu übernehmen und die nötigen Schritte zu setzen, um das ganze Paket abzuschließen. Hier geht es nicht um Ideologien, sondern um Hilfe für unsere Bürger in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg!", appellierte Hahn.