Der ÖVP-EU-Abgeordnete Othmar Karas hat die europäische Staats- und Regierungschefs am dritten Tag der Verhandlungen über das Corona-Wiederaufbaupaket aufgerufen, die "Show" zu beenden. "Jeder weiß, dass die Zeit drängt & was zu tun ist", twitterte der Vizepräsident des Europaparlaments am Sonntagvormittag.

"Es ist keine Frage der Fakten & der Herausforderungen. Die Runde ist gespalten in: Fakten vs. Taktik, Verantwortung vs. Show, Rechtsstaatlichkeit vs. Missbrauch, Zukunft vs. Populismus", kritisierte er. "Welche EU wollen wir? Beendet die Show!", lautet sein Appell.

Die Fronten zwischen den 27 europäischen Staats- und Regierungschefs sind jedoch verhärtet - nächtliche Verhandlungen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron mit den "sparsamen" Ländern - Österreich, Dänemark, Schweden, die Niederlande und Finnland - konnten laut Diplomatenkreisen in der Nacht auf Sonntag daran nichts ändern. Am Samstag war man der Nettozahler-Allianz bereits entgegengekommen.

Langer Gipfel-Sonntag

Der Brüsseler Gipfelmarathon zehrte an den Nerven der EU-Staats- und Regierungschefs. Während sich EU-Ratspräsident Charles Michel am Sonntag bereits den dritten Tag in verschiedensten Gesprächen um Kompromisse bemühte, äußerten sich die Staats- und Regierungschefs zunehmend missmutig. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der auf weitere Zugeständnisse hoffte, rief jedoch zum Durchhalten auf.

Michel ließ die eigentlich für Mittag geplante Wiederaufnahme der Beratungen in großer Runde mehrmals verschieben, schließlich begann der eigentliche Gipfel dann erst mit dem Abendessen um 19 Uhr. Michel hat nach Angaben von Diplomaten beim EU-Gipfel ausgelotet, die Höhe der Zuschüsse im Aufbaufonds auf 400 Milliarden Euro zu senken. Ursprünglich waren 500 Milliarden Euro vorgesehen, zuletzt nur mehr 450 Milliarden.

Die Allianz der "Sparsamen" Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland hatten dagegen 350 Milliarden Euro gefordert und dies als "letztes Angebot" formuliert. Die Gruppe forderte auch ein geringeres Volumen für den Aufbaufonds, nämlich 700 Milliarden statt 750 Milliarden Euro.

Nach Angaben von Diplomaten gab es beim Abendessen keine Einigung, der Gipfel lief aber weiter. Michel habe die 400 Milliarden nur ausgelotet und keinen formellen neuen Kompromissvorschlag eingebracht, hieß es. Der Rest im Aufbaufonds soll aus rückzahlbaren Krediten bestehen.

Offen war auch die Frage der Budgetrabatte. Nach bisher unbestätigten Angaben der Nachrichtenagentur ANSA bot Michel fünf Ländern Rabatte im Umfang von 25 Milliarden Euro für das siebenjährige EU-Budget von 2021 bis 2027. Rabatte sollten nach bisherigem Stand Deutschland, die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark erhalten.

Der Kragen am Gipfel geplatzt

So manchem Gipfelteilnehmer schien ob des Feilschens bereits der Kragen zu platzen. So ging der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán den niederländischen Premier Mark Rutte frontal an. Wenn der Deal blockiert wird, dann ist das nicht wegen mir sondern wegen dem niederländischen Typen", sagte Orbán am Sonntag. "Der Holländer ist der wirklich verantwortliche Mann für das ganze Durcheinander, das wir haben."

Grund für die Verärgerung Orbáns ist, dass Rutte auch in der Frage der Rechtsstaatsbedingungen eine harte Linie fährt. Polen und Ungarn haben mit einem Veto gedroht, sollte die Auszahlung von EU-Geldern künftig mit einem Mechanismus zur Prüfung des Rechtsstaates verknüpft werden. Bundeskanzler Kurz machte klar, dass die "Sparsamen Vier" in diesem Punkt keinen faulen Kompromiss akzeptieren wollen. Damit erteilte Kurz einem Vorschlag Orbáns, der die Rechtsstaatsprüfung mit dem Erfordernis eines einstimmigen Beschlusses aller Mitgliedsstaaten ad absurdum führen wollte, eine deutliche Absage.

Der luxemburgische Premier Xavier Bettel sagte, er habe "selten so diametral entgegengesetzte Positionen" in vielen Bereichen gesehen. "Es ist ein Moment der Solidarität, denn wenn einige Länder kollabieren, glaube ich, dass das auch Folgen für andere haben kann", mahnte Bettel.

Sein slowenischer Amtskollege Janez Janša übte deutliche Kritik an seinen Amtskollegen. In den Jahren 2004 bis 2008 habe es "weniger Tagespolitik und mehr strategisches Denken" gegeben, sagte Janša mit Blick auf seine erste Amtszeit, in der er auch ein halbes Jahr EU-Ratspräsident gewesen war. Bei den aktuellen Verhandlungen drifte man "zu sehr in Nebenthemen ab", sagte er in Anspielung auf das Feilschen um Geld. "Das verhindert die Konzentration auf die zentralen Probleme."

Kurz bekräftigte indes seine Bereitschaft zur Einigung. "Ich glaube, es ist möglich, ein Ergebnis zustande zu bringen", sagte er. "Ich würde es persönlich sehr schade finden, wenn es zu einem Abbruch kommt."

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel versuchte indes dem Eindruck entgegenzutreten, dass sie eine Einigung um jeden Preis wolle. "Es gibt viel guten Willen, aber es gibt auch viele Positionen", sagte sie am Sonntag. Sie wolle sich für eine Einigung einsetzen, "aber es kann auch sein, dass es heut zu keinem Ergebnis kommt".

Macron bekräftigte indes seinen Willen, bis zu einer Einigung weiterzuverhandeln. Zu den Themen Rechtsstaatlichkeit, Steuerung und Höhe des Aufbaufonds gebe es "gute Kompromisse" zu finden, so Macron. Er hält dies für "noch möglich", betonte aber, dass dies nicht auf Kosten der Ziele Europas gehen dürfe.

Der italienische Regierungschef Conte drängte ebenfalls auf einen Abschluss der Verhandlungen. "Wir müssen morgen weitermachen und alles tun, um das im Interesse aller zu Ende zu bringen", hatte Conte in der Nacht auf Sonntag gesagt. Eine Vertagung des Gipfels würde niemandem helfen. Conte hatte sich zuvor pessimistisch gezeigt und von einem "Patt" gesprochen.

Für Verärgerung hatte am ersten und zweiten Gipfeltag vor allem die Forderung Ruttes gesorgt, dass es ein nationales Vetorecht gegen die Auszahlung der EU-Coronahilfen geben solle. Michel konnte den Konflikt entschärfen, indem er in seinem ersten Kompromisspapier eine "Super-Notbremse" vorschlug. Demnach sollen Mitgliedsstaaten einen vorläufigen Stopp von Auszahlungen bewirken können, wenn sie Vorbehalte gegen die jeweiligen nationalen Reformprogramme haben.

Vorwürfe gegen die Niederlande

Die französische EU-Abgeordnete und frühere Europaministerin Nathalie Loiseau (LREM) warf den Niederlanden am Sonntag auf Twitter Egoismus vor. "Rutte verteidigt seine Euros, Merkel und Macron verteidigen Europa", schrieb sie. Man werde sich jetzt verstärkt um die Blockierer kümmern. Loiseau preist in ihrem Tweet auch den "Elan der Solidarität" und die "Kraft der deutsch-französischen Allianz".

Macron und Merkel ziehen bei den Verhandlungen über das insgesamt 1,8 Billionen Euro schwere Wiederaufbaupaket zur Bewältigung der Coronakrise an einem Strang. Dieses besteht aus dem auf 1,1 Billionen Euro aufgestockten EU-Budget für die Jahre 2021 bis 2027 und dem Aufbaufonds, der auf einen deutsch-französischen Vorschlag zurückgeht.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte zuletzt "Bewegung in die richtige Richtung" geortet, es sei aber "noch ein langer Weg zu gehen", um eine Einigung zu finden. Aus Diplomatenkreisen verlautete am Samstagabend, dass EU-Ratspräsident Charles Michel einen neuen Kompromissvorschlag vorstellen wollte.

Dieser könnte den "Sparsamen Vier" - Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande - weiter entgegenkommen und etwa höhere Rabatte und niedrigere Zuschüsse beim Coronahilfsfonds vorsehen. Außerdem sollen die - für Österreich bedeutsamen - Mittel für ländliche Entwicklung im EU-Mehrjahresbudget wieder steigen.

Orban: EU-Einigung über Finanzen ist ein "Muss"

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban sieht eine Einigung auf dem EU-Gipfel als ein "Muss". "Wir sind uns bewusst, dass wir eine Einigung brauchen, wir verhandeln unter dem Druck, dass eine Einigung ein Muss ist", sagt er.

Umstritten seien aber weiter der Aufbaufonds, das Verhältnis von Zuschüssen und Krediten, die Rabatte für Nettozahler im EU-Haushalt sowie die Rechtsstaatsregeln. Bisher sei der Europäische Gerichtshof für die Einhaltung der Rechtsstaatsprinzipien verantwortlich, nun wollten einige EU-Regierungen und die Kommission die Frage politisieren.