Ende Jänner luden die Vereinten Nationen junge Menschen in das New Yorker Hauptquartier. Mit väterlichem Habitus diskutierte Generalsekretär António Guterres mit Buschen und Mädchen über die großen Herausforderungen im Jahr des 75. Geburtstages der Weltorganisation. Die seltsamen Corona-Erkrankungen in China galten damals noch als lästiges, aber beherrschbares Problem.

Guterres fragte die Jungen, ob die Welt in 25 Jahren besser oder schlechter seine werde? „Ich glaube, es gibt eine Welle des Optimismus“, urteilte der Portugiese, als sich eine Mehrheit für eine bessere Welt entschied. Kurz darauf schlitterte der Globus in die Corona-Krise.

Zerbrechliche Welt

Das Virus „stellt die Zerbrechlichkeit unserer Welt bloß“, sagt Guterres heute. Corona enthüllt aber auch die Fragilität der Vereinten Nationen: Die Weltgesundheitsorganisation sollte den globalen Kampf gegen die Pandemie koordinieren. Die UN-Sonderorganisation erweist sich aber als zu schwach und stolpert in die Fronten des Machtkampfs zwischen den USA und China. Besonders aber in ihrem Kerngeschäft, der Friedenssicherung, zeigt die UNO während der Pandemie Schwäche.

Im 75. Jubiläumsjahr trumpfen die Großmächte rücksichtslos auf.
Als die Staatenvertreter im Frühjahr 1945 in San Francisco zur UN-Gründung zusammenkamen, waren die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch nicht zu Ende. Am 26. Juni 1945 unterzeichneten die Vertreter von 50 Staaten die Charta der Vereinten Nationen, am 24. Oktober trat diese in Kraft.

Das Wort Frieden schrieben ihre Verfasser an 52 Stellen in die Charta, davon an 32 Stellen als „Weltfrieden“. In Artikel 1 geloben die Gründungsmitglieder, „Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken“. Und sie gaben die Entwickelung „freundschaftlicher“ Beziehungen zwischen den Nationen als Ziel aus.

75 Jahre später halten Krisen und Kriege die Welt in Atem: Libyen, Jemen und Syrien sind traurige Beispiele für blutige Auseinandersetzungen, in denen viele Länder mitmischen. Auch totgesagte Terrorgruppen wie der IS stellen sich neu auf. Die Folge: Fast 80 Millionen Menschen befanden sich zum Jahreswechsel auf der Flucht. „Nie zuvor haben wir so viele Menschen auf der Flucht registriert”, sagt UN-Hochkommissar Filippo Grandi.

Hilflos

Wie hilflos die UNO dem Elend gegenübersteht, demonstriert der Appell für einen globalen Waffenstillstand, zu dem Guterres alle Konfliktparteien im März aufrief. Alle Menschen sollten sich auf den Kampf den „gemeinsamen Feind“, das Virus, konzentrieren. Über 100 Staaten und Konfliktparteien unterstützten den Appell, ohne diesen dann in Taten umzusetzen, wie Guterres Ende Mai resigniert sagte.

Der Konfliktforscher Jean-Marc Rickli vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik betont, dass mehr und mehr nichtstaatliche Akteure Kämpfe austragen, etwa in Libyen oder der Demokratischen Republik Kongo. Diese zu erreichen, oder gar von einem Waffenstillstand zu überzeugen, sei generell sehr schwierig für die UN. „Die UN sind aus Mitgliedsländern zusammengesetzt. Viele nichtstaatliche Akteure fühlen sich von UN-Appellen wie dem Aufruf zum globalen Waffenstillstand nicht angesprochen.“

Auch kann sich der UN-Sicherheitsrat nicht auf eine Unterstützung für Guterres’ Initiative einigen. Doch nur der Rat kann völkerrechtlich verbindliche Beschlüsse fassen. Hinter vorgehaltener Hand prangern Diplomaten die Unfähigkeit des potenziell mächtigsten UN-Gremiums als „Schande“ an. Zwar drängen Frankreich, Deutschland und andere Staaten auf eine Resolution, aber der Machtkampf zwischen den Vetomächten USA und China lässt die Initiative versanden.

Mit dieser Dominanz wird die UNO weit über ihr Jubiläumsjahr hinaus leben müssen. Auch wird der Sicherheitsrat mit seinen fünf ständigen Mitgliedern weiterhin nicht die Rolle spielen, die ihm in Charta zugedacht wurde. „Die Machtstrukturen der UN sind nur begrenzt reformfähig, vor allem im Sicherheitsrat“, erläutert Helmut Volger vom Forschungskreis Vereinte Nationen. „Die fünf ständigen Mitglieder können alle großen Reformen, wie eine Erweiterung des Sicherheitsrats, verhindern.“ Und die USA und China sind dazu auch entschlossen. Unabhängig davon, welche Präsidenten in Washington und Peking gerade das Sagen haben.

Völkerrechtler Hubert Isak im Interview: "Wir brauchen die UNO mehr denn je"

Hubert Isak ist Jurist und Professor für Völkerrecht und Europarecht am Institut für Europarecht an der Universität Graz.

Die UNO dürfe aber nicht instrumentalisiert
werden, warnt der Experte im Interview.

Hat die UNO in der Coronakrise nicht komplett versagt?
HUBERT ISAK: Was man der WHO als Sonderorganisation der UNO vorwerfen kann: Dass sie die Gefährlichkeit des Virus und seiner Verbreitung noch zu einem Zeitpunkt unterschätzt bzw. heruntergespielt hat, als nicht nur in China, sondern auch in einigen europäischen Staaten die Gefahr erkannt und rigorose Maßnahmen ergriffen wurden. Einen Schatten auf die WHO wirft auch der Umstand, dass ihr Generaldirektor Tedros Ghebreyesus, dessen Wahl massiv von China unterstützt worden war, noch Mitte Februar auf einer internationalen Konferenz in München erklärt hatte, dass Chinas Maßnahmen geholfen hätten, die Verbreitung auf andere Staaten zu verlangsamen.

Ist die UNO 2020 überhaupt noch notwendig?
ISAK: Wir brauchen die UNO heutzutage mehr denn je, denn ihr Aufgabenbereich ist leider so aktuell wie in den letzten 75 Jahren. Die UNO hat drei Handlungsschwerpunkte: Friedenssicherung, Durchsetzung der Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung. In all diesen Bereichen hat die UNO seit ihrer Errichtung substanzielle Beiträge geleistet und auch Erfolge erzielt. Dass die Lage der Menschenrechte auf der ganzen Welt weiterhin die Aufmerksamkeit der UNO erfordert, wird uns täglich vor Augen geführt. Zwar hat die UNO kein Mandat für einen Menschenrechtsschutz im eigentlichen Sinn, aber sie hat wichtige Initiativen zur Förderung der Menschenrechte gesetzt. Von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bis hin zur Einrichtung des UN-Menschenrechtsrats 2006 in Genf, der 2020 unter dem Vorsitz der österreichischen Botschafterin in Genf, Elisabeth Tichy-Fisslberger, steht.

Wie sieht die UNO in einer multipolaren Welt aus?
ISAK: Gerade in einer multipolaren Welt mit einer sich laufend verändernden Machtarchitektur ist ein multilaterales Forum umso wichtiger. Es wäre natürlich naiv, die Augen vor der Realität zu verschließen: Es sind souveräne Staaten, die das Weltgeschehen bestimmen wollen, ihre Interessen verfolgen, zu diesem Zweck auch Machtpole bilden und immer wieder neue Allianzen schmieden.

Welche UNO brauchen wir in Zukunft?
ISAK: Eine, die von den Mitgliedstaaten in ihren Aufgaben, ihrer Verantwortung und auch ihren Chancen ernst genommen wird. Wir brauchen echtes „Commitment“ der Staaten in der und für die UNO und nicht ihre Instrumentalisierung für die je eigenen politischen Interessen.