Wenn die Briten am Donnerstag zu den Urnen schreiten, muss nicht nur die Opposition, allen voran die Labour Party zittern. Letzten Meinungsumfragen zufolge ist ein Sieg der regierenden Konservativen zwar wahrscheinlich. Doch ist es nicht ausgeschlossen, dass Premier Boris Johnson die von ihm angepeilte Unterhaus-Mehrheit knapp verfehlt.
Denn der beträchtliche Abstand zwischen den Tories und Labour hat sich in mehreren Umfragen leicht verringert. Wachsende Sorge in der Bevölkerung um die Zukunft des maroden Nationalen Gesundheitswesens (NHS) macht der Regierung offenbar zu schaffen.

Eine detaillierte Voraussage des renommierten YouGov-Instituts, das schon den Wahlausgang von 2017 recht genau prophezeit hatte, sprach von einer möglichen Mehrheit Johnsons im neuen Unterhaus von 28 Sitzen, hielt es aber auch für denkbar, dass der Tory-Chef am Ende noch ganz um seine Mehrheit kommt. Nur in rund einem Dutzend der insgesamt 650 Wahlkreise bräuchte es ein unerwartetes Ergebnis zugunsten der Opposition, und Johnson stünde erneut da ohne klares Mandat, ohne parlamentarische Basis, erklärte das Institut.

YouGov sah die Tories bei 43 Prozent und Labour bei 34. Den Liberaldemokraten gab das Institut 12 Prozent. In Schottland erwartete es ein gutes Abschneiden der Schottischen Nationalpartei (SNP).
Oppositionsführer Jeremy Corbyn, der Labour-Vorsitzende, appellierte an alle Wähler, den Wahltag dazu zu nutzen, Johnson auszuhebeln, eine Demontage des NHS durch die Tories zu verhindern – und einen „harten“ Brexit zu vereiteln. In einer sonderlich starken Situation fand sich Corbyn freilich nicht. Labour blieb fast die gesamte Wahlkampagne deutlich hinter den Tories zurück.

Eine Überfülle an radikalen Reformideen habe die Wähler wohl überfordert, vermuteten Beobachter. Auch angestammte Labour-Wähler zweifeln an der Finanzierbarkeit eines linkssozialistischen Mega-Programms.
Zudem stieß Corbyns verworrene Brexit-Position Pro- und Anti-Europäer gleichermaßen ab. Auch vermochte der oft starr wirkende Labour-Vorsitzende über sein Gefolge hinaus keine Begeisterung auszulösen. Der 70-Jährige machte auf der politischen Bühne einen müden Eindruck. Dazu kamen schwere Antisemitismus-Vorwürfe.

Jüdische Verbände riefen dazu auf, Labour die Stimme zu versagen. Pro-Europäer klagten über Corbyns ausweichende Haltung in Sachen EU. Und in den alten Industriegebieten des Nordens kündigten viele Briten an, sie hätten alles Vertrauen in Labour verloren und würden zu den Tories übergehen. Wenig hilfreich war in dieser Situation, dass zwei Tage vor den Wahlen vertrauliche Äußerungen des Schatten-Gesundheitsministers Jonathan Ashworth über die „desolate“ Lage seiner Partei an die Öffentlichkeit kamen.

Bang sehen auch die pro-europäischen Liberaldemokraten unter Jo Swinson dem Wahltag entgegen. Statt der „dreistelligen“ Zahl an Mandaten, von der Swinson einmal träumte, kann sich ihre Partei bestenfalls eineinhalb Dutzend Sitze erwarten, kaum mehr als beim letzten Mal. Völlig untergegangen scheint Nigel Farages Brexit-Partei zu sein, die noch bei der EU-Wahl im Mai stärkste Partei war und auf 30,5 Prozent aller Stimmen kam. In den Umfragen rangiert die Partei gerade noch bei 3 Prozent. Unterhaussitze werden ihr keine vorausgesagt.