Bevor Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Treffen mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ins westungarische Sopron kam, gab es den üblichen Austausch darüber, was beide in ihren Reden sagen würden.

Der Anlass: Das „Paneuropa-Picknick“ vor 30 Jahren, als der Eiserne Vorhang von den Ungarn zerrissen wurde. Das wollte man mit einem ökumenischen Gottesdienst gemeinsam feiern.

Orbáns Rede enthielt dann viel, was der Kanzlerin gefallen sollte: Er würdigte ihre starke Führung nicht nur Deutschlands, sondern auch ihr unermüdliches Engagement für die europäische Einheit – ein Begriff, den er mehrfach betonte: „Wir glauben an die europäische Einheit. Europa ist heute wieder vereint, weil wir immer daran glaubten.“ Diese Einheit müsse aber jeden Tag neu errungen werden, und gerade deswegen sei Merkels Leistung so bewundernswert.

Merkel ihrerseits vermied zur großen Freude der Ungarn den sonst bei deutschen Politikern zu diesem Thema üblichen Hinweis auf die Verdienste der damaligen ungarischen (kommunistischen) Regierung.
Dieses Lob der Deutschen für die damalige kommunistische Diktatur hat uns Dissidenten schon damals gestört, und es stört uns bis heute”, sagte am Rande des Treffens der Orbán-Vertraute und frühere Minister Zoltán Balog. „Ohne unseren Druck in der Gesellschaft hätten sich die Kommunisten nicht geändert.“ Merkel würdigte in ihrer Rede ganz in diesem Sinne die Verdienste der damaligen ungarischen Bürgerbewegung. Sie erwähnte zwar „europäische Werte“, für die die Grenzöffnung in Ungarn vor 30 Jahren ein gutes Beispiel sei. Aber weder in der Kirche noch nachher bei der Pressekonferenz formulierte sie Kritik an der Regierung Orbán hinsichtlich dieser Werte. Das war bei ihrem letzten Besuch im Jahr 2015 noch anders gewesen. Mit Orbáns Formulierung von der „illiberalen“ statt liberalen Demokratie „kann ich nichts anfangen“, sagte sie damals.

Man betonte jetzt das Gemeinsame. Migration: „Wir sind uns einig, dass Grenzschutz wichtig ist und Hilfe für die Ursprungsländer, aus denen Migranten kommen“, sagte Merkel. Mehr gemeinsame Forschung, mehr Handel, mehr militärische Zusammenarbeit. Alles in allem: „Unsere bilateralen Beziehungen sind gut“, betonte Merkel. Es gebe Differenzen in der Flüchtlingspolitik, aber das seien Differenzen, die man vor dem Hintergrund der guten Beziehungen freundschaftlich besprechen könne. Orbán schien das Migrationsthema ganz zu verabschieden: Man habe die alten Debatten hinter sich, sagte er, und könne nun besser Lösungen suchen.

Zwischen Kirche und Pressekonferenz gab es ein einstündiges Arbeitsmittagessen, bei dem unter anderem wirtschaftliche und militärtechnische Kooperationsprojekte besprochen wurden. Der Ton war offenbar ausgesprochen gut, sogar über Italiens nationalkonservativen Politiker Salvini wurde humorvoll geflachst, verriet ein Teilnehmer.

Was war da passiert? Zwischen Deutschland und Ungarn herrschte doch ein eher frostiges Verhältnis in den letzten Jahren und Monaten. Jetzt aber signalisierten die Worte und auch die entspannte Körpersprache auf beiden Seiten, dass man einen neuen Ton in den Beziehungen wollte.
„Ich glaube, des Rätsels Lösung ist Ursula von der Leyen“, sagt ein langjähriger Kenner der deutsch-ungarischen Beziehungen, der sowohl von der Leyen als auch Orbán gut und seit sehr Langem kennt. „Sie liebt Ungarn. Die Ungarn sehen sie als hundertprozentige, blitzgescheite Pragmatikerin. Und von der Leyen sieht in Orbán vor allem eins: Verlässlichkeit.“

Freilich – sie hat ihre Wahl zur EU-Kommissionschefin letztlich Orbán und den Ostmitteleuropäern der Visegrád-Gruppe zu verdanken. Merkel und von der Leyen, so dieser Denkansatz, haben sich für ein neues Verständnis in der Haltung gegenüber den Osteuropäern entschieden. Merkel sagte es wortwörtlich in der Pressekonferenz: Sie sei „einer Meinung mit Ursula von der Leyen“, dass „wir bessere Beziehungen zueinander brauchen in Europa“. Die neue Kommissionschefin hat in Presseinterviews klar gesagt, dass sie den osteuropäischen Ländern mit „mehr Respekt“ begegnen will.

Das heißt aber nicht, dass alle Probleme zwischen Berlin und Budapest plötzlich gelöst sind. „Es gibt weiterhin fundamentale Meinungsunterschiede, und die sind auch nicht gelöst“, sagt ein ranghoher Ungar, der anonym bleiben will. „Aber jetzt wollen wir eher das Gemeinsame betonen als das, was uns trennt.“

Politologen sprechen zuweilen über einen „geoökonomischen“ Aspekt der deutschen Außenpolitik, den wirtschaftlichen Vorteil immer im Auge zu behalten, auch wenn es Probleme gibt bei Rechtsstaatlichkeit oder demokratischen Werten. Denkbar, dass die deutsche Kanzlerin Merkel sich entschlossen hat, fortan eher diesen Ansatz zu verfolgen in ihrer Haltung zu Polen und Ungarn. Sowieso: Bei allem Streit um „Werte“ liefen die wirtschaftlichen Beziehungen immer sehr gut. Jetzt will man vielleicht den Wertestreit in die EU-Instanzen auslagern, wo er versanden dürfte.

Freilich hat auch Orbán etwas für den neuen Frieden getan – unter anderem mit riesigen Subventionen für deutsche Investoren, mit dem Kauf deutscher Rüstungsgüter um viel Geld, mit dem Verzicht auf eine geplante und umstrittene weitere Justizreform. Es ist seine Art: Er denkt in Kategorien von materiellem Interesse, wo die deutsche Seite oft ideelle Werte betont. Orbán geht aber immer davon aus, dass sich der Rest schon regeln wird, wenn er materiellen deutschen Interessen entgegenkommt.

Das schien jetzt die deutsche Kanzlerin ähnlich zu sehen. Selbstverständlich werde man bei der Gestaltung des neuen EU-Haushalts und der Verteilung der EU-Fördermittel Ungarns Interessen mitbeachten, „wie auch Ungarn unsere Interessen immer mitbeachtet“.
Da scheinen wirklich neue Zeiten anzubrechen. Ein greifbares Zeichen dafür wird im September ein hochrangiger Besuch beim jährlichen Deutsch-Ungarischen Forum sein. Sowohl der deutsche Außenminister Heiko Maas als auch sein ungarischer Amtskollege Péter Szijjártó kommen. Das war nicht immer so.