Ob viereckige Erdbeeren oder Einheitssärge: Euromythen waren seine Spezialität. Sein Markenzeichen. Als Brüsseler Korrespondent des rechtsnationalen „Daily Telegraph“ lieferte Johnson von 1989 bis 1994 spöttische Geschichten und jede Menge Halbwahrheiten aus dem „Herzen Europas“. Seine Depeschen nährten Tag für Tag die antieuropäischen Ressentiments seiner Leserschaft in England und verschafften britischen „Euroskeptikern“ nie da gewesenen Auftrieb.

Hintergrund der Berichterstattung des kecken jungen Schreibers waren die Synchronisierungsbemühungen der Europäer unter dem damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Der Franzose, noch dazu Sozialist, war der Tory-Rechten ein Dorn im Auge. Johnson fiel die Aufgabe zu, all die „tückischen“ Manöver der Kommission ans Tageslicht zu heben. Wie viel wahr war an seinen Geschichten, und wie viel „fake“, das fragte beim „Telegraph“ niemand so genau.

"Brüsseler Bürokraten" wollen Briten ihrer Traditionen berauben

So erfuhr man durch Johnson in England, dass Brüssel den EU-Staaten begradigte Bananen verordnen wollte. Britische Fischer, meldete er, müssten bald Haarnetze tragen. Teebeutel würden abgeschafft. Cocktail-Crisps dürften keinen Krabbengeschmack mehr haben und Kinder unter acht Jahren keine Luftballons mehr aufblasen. Särge könnten nur noch im Einheitsformat produziert werden. Pintgläser würden verboten in Pubs. Alles in allem war klar, dass die „Brüsseler Bürokraten“ die stolzen Briten ihrer Traditionen und Souveränität berauben wollten. Delors plane, „Europa zu beherrschen“, war Johnsons berühmteste Überschrift.

Seine Korrespondentenkollegen rauften sich die Haare angesichts dieser Übertreibungen. Die EU-Behörden reagierten manchmal amüsiert und häufig kopfschüttelnd. Wie gefährlich Johnsons Euromythen sein würden, das ging ihnen erst später auf. Doch da war es dann schon zu spät.

Im Grunde, meinen heute viele Beobachter, habe der neue Hausherr in Downing Street No. 10 mit seiner genialen Masche „die euroskeptische Haltung“ auf der Insel in dieser Form überhaupt erst begründet. Insofern sei es nur logisch, dass er ein Vierteljahrhundert später beim Referendum die Brexit-Kampagne anführte und als Premier nun den Austritt des Landes aus der EU umsetzen soll.

"Ein echt komisches Machtgefühl“

Aus Brüssel sei der damals keine 30 Jahre alte „BoJo“ „als regelrechter Star“ nach London heimgekehrt, weiß seine Biografin Sonia Purnell. Er selbst meinte später, es sei gewesen, als habe er „Steine über eine Gartenmauer geworfen“ und dann „dieses erstaunliche Geklirr im Glashaus nebenan in England vernommen“. Die Wirkung seiner Berichte auf die britischen Konservativen habe bei ihm „ein echt komisches Machtgefühl“ ausgelöst.

Und nach all diesen Jahren, wer kann's ihm verdenken, wenn sich Johnson dieses Gefühls gern noch einmal vergewissern will. Vor wenigen Tagen hob er bei einer Veranstaltung einen in Plastik eingeschweißten Räucherhering in die Luft. Ein braver Fischhändler von der Isle of Man habe sich bitter beklagt bei ihm, erklärte er, weil er diesen Fisch „nur auf einem Eiskissen“ verschicken dürfe. Mit einer so „sinnlosen, teuren und umweltschädlichen“ Vorschrift traktiere die EU neuerdings britische Fischer - höchste Zeit, sich zu verabschieden aus der Union.

Diesmal ließ die Reaktion aus Brüssel aber nicht lange auf sich warten. Johnson täusche sich, erklärte die EU-Kommission noch vor dem Regierungswechsel in London. Die Vorschrift sei eine britische. Die EU schreibe keinem Fischhändler vor, in welcher Form er seine Ware versende - solange die frisch sei und kein Gesundheitsrisiko. „Ein Fisch“, fügte EU-Kommissar Vytenis Andriukaitis giftig hinzu, „beginnt am Kopf zu stinken. Als potenzieller künftiger Premierminister werden Sie kühlen Kopf bewahren müssen. Letztlich, lieber Boris, ist ein Eiskissen vielleicht gar keine so dumme Idee.“