Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein ist nicht zu beneiden. In den nächsten Wochen muss Österreich seine oder seinen EU-Kommissar nominieren. Normalerweise schnapst sich das der Kanzler mit seinem jeweiligen Koalitionspartner aus, der Beschluss des Hauptausschusses ist ein reiner Formalakt. Diesmal sind die Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt. Bierlein verfügt über keine parlamentarische Mehrheit, noch dazu hat sie bereits signalisiert, dass sie sich der Mehrheit des Hauptausschusses beugen wird.


Selbst wenn sich der Hauptausschuss auf einen Namen einigt, ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen. Die designierte Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen hat ein äußerst gewichtiges Wörtchen mitzureden. Sie fixiert die Ressorts, verteilt die Portefeuilles und äußert auch Wünsche, insbesondere wenn es um die fachliche Kompetenz der Kandidaten geht. Bestes Beispiel: 1995 war Franz Fischler gar nicht der Wunschkandidat der damaligen Regierung. Der Tiroler kam zum Zug, weil Kommissionschef Jacques Santer jemanden für das Agrarressort benötigte. Österreich wäre auch diesmal gut beraten, eine gewisse personelle Flexibilität an den Tag zu legen.


Bierlein steht in gewisser Weise zwischen den Fronten und muss zwischen Von der Leyen und dem Hauptausschuss vermitteln. ÖVP-Chef Sebastian Kurz traf gestern in die Berlin die designierte Präsidentin der Kommission. In der Unterredung ersuchte er Von der Leyen, möglich bald mit Bundeskanzlerin Bierlein in Kontakt zu treten. Dass Von der Leyen ein Faible für Österreich besitzt, wurde bereits am Vorabend deutlich: Die Wahlsteirerin - sie besitzt ein Feriendomizil in der Obersteiermark – stieß völlig überraschend zu einem hochkarätigen, exklusiven Dinner für Kurz im Axel-Springer-Haus dazu.


Die entscheidende Frage lautet allerdings: Verständigen sich ÖVP, SPÖ und FPÖ auf einen gemeinsamen Kandidaten? Oder formiert sich im Hauptausschuss eine Zweierkoalition mit dem Effekt, dass ein Dritter auf der Strecke bleibt? In der SPÖ wie auch in der FPÖ ist die Versuchung groß, die schwarz-türkise Erbpacht beim Kommissar (seit dem EU-Beitritt) zu beenden.


Die besten Karten hat derzeit wohl Johannes Hahn. Der Kommissar für die Nachbarschaftsbeziehungen hat sich ein hohes Ansehen in Brüssel, in den EU-Hauptstädten wie auch am Balkan erarbeitet. Der ehemalige ÖVP-Minister könnte vom Hauptausschuss zum Kompromissmann gekürt werden. Hahn könnte als erfahrener Kommissar zum Vizepräsidenten aufstiegen und das Balkan-Dossier behalten. Keine Chancen, weil ohne Mehrheit ist die Kurz-Wunschkandidatin Karoline Edtstadler. Auch Othmar Karas ist ohne Chancen.


Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger bringt den langjährigen Generalsekretär der Euro-Gruppe Thomas Wieser ins Spiel, auch die SPÖ macht sich für ihn stark. Die Voraussetzungen erfüllt SPÖ-Klubobmann Jörg Leichtfried, er war EU-Abgeordneter und Minister. Auch die einstige Justizministerin und langjährige EU-Richterin Maria Berger wird genannt.