Die britische Regierung denkt darüber nach, ihren Brexit-Deal ein viertes Mal im Unterhaus zur Abstimmung zu stellen. Eine Verabschiedung des Austrittsabkommens mit der EU sei der "beste Weg, das Referendumsergebnis umzusetzen", sagte der Parteichef von Mays Konservativen, Brandon Lewis, am Samstag der BBC. Die Brexit-Hardliner verstärkten indes den Druck auf Premierministerin TheresaMay.

Das Unterhaus hatte den Deal am Vortag zwar zum dritten Mal abgelehnt - allerdings mit weniger klarer Mehrheit als zuvor. "Zumindest geht es in die richtige Richtung", sagte Lewis über die Stimmung im Parlament. "Wir müssen uns alle Optionen anschauen." Die nordirischen Unionisten bekräftigten jedoch ihr Nein zu dem Deal. Er sei lieber für einen Verbleib in der EU als für eine Lösung, die die Union aus Nordirland und Großbritannien gefährde, sagte DUP-Vizechef Nigel Dobbs am Freitagabend der BBC.

170 der 314 konservativen Parlamentsabgeordneten schickten indes nach einem Bericht der "Sun" einen Brief an May, in dem sie den Austritt Großbritanniens aus der EU fordern - auch wenn dies nur ohne Vertrag gehe. "Wir wollen die EU am 12. April verlassen oder aber sehr rasch danach", zitierte das Blatt am Samstag aus dem Brief, der auch von zehn Kabinettsmitgliedern unterzeichnet worden sei.

Dagegen sagte der Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw, dass er mit einem "sanfteren" Brexit und einer anschließenden zweiten Volksabstimmung rechne. Es gebe gute Aussichten, dass Großbritannien in der EU-Zollunion bleibe, sagte der Ex-Staatssekretär am Samstag dem Deutschlandfunk. Über diesen Beschluss solle dann erneut das Volk abstimmen.

Medienberichten zufolge wollte May am Sonntag mit ihren Ministern über das weitere Vorgehen beraten. Demnach könnte die Premierministerin abwarten, welche Alternativvariante sich in der ersten Wochenhälfte in den Beratungen des Unterhauses herauskristallisiert. Dieser Variante könnte May dann neuerlich ihren Deal entgegenstellen, diesmal verbunden mit einer Neuwahldrohung im Fall eines neuerlichen Nein.

Regierung der nationalen Einheit

Wegen der verfahrenen Lage im Unterhaus schlug die konservative Abgeordnete Nicky Morgan eine Regierung der nationalen Einheit vor. In schwierigen Situationen in der Vergangenheit habe das Land damit gute Erfahrungen gemacht, sagte die frühere Frauen- und Gleichstellungsministerin der BBC am Samstag. Klarheit über die britischen Absichten braucht es bis 10. April, wenn die EU-Staats- und Regierungschef einen Sondergipfel über den Brexit abhalten.

Eigentlich hätte Großbritannien die Europäische Union am gestrigen Freitag um 23 Uhr Ortszeit verlassen sollen. Wegen des Patts im Unterhaus, das sowohl Mays Deal als auch einen ungeregelten Brexit ablehnte, musste der Austritt aber verschoben werden. Die EU-Staaten gewährten London aber wegen der auslaufenden Fristen vor der Europawahl nur einen Aufschub bis 12. April.

Europafreundlicher Abgeordneter abgesetzt

Der Zorn der Brexiteers fand indes ein erstes politisches Opfer. Der pro-europäische konservative Abgeordnete Dominic Grieve, der sich für ein zweites Referendum stark macht, wurde am Freitagabend bei einer lokalen Parteiversammlung in seinem mittelenglischen Wahlkreis Beaconsfield abgesetzt. Bei der hitzigen Zusammenkunft wurde er als "Verräter" und "Lügner" beschimpft, das von dem ehemaligen UKIP-Politiker Jon Conway initiierte Misstrauensvotum wurde mit 182 zu 131 Stimmen angenommen.

Beobachter sehen in Vorgängen einen Vorgeschmack darauf, was sich innerhalb der konservativen Partei abspielen könnte, wenn das Brexit-Patt in vorgezogene Neuwahlen münden sollte. Während selbst Brexit-Wortführer Boris Johnson seinem angesehenen Kollegen zur Seite sprang, rief Ex-Finanzminister George Osborne die Parteiführung zum Eingreifen auf. Der lokale Tory-Ableger in Beaconsfield müsse abgesetzt werden. "Ansonsten steuern wir auf eine riesige, historische Spaltung der Tories zu", warnte Osborne.

Bradshaw sagte dem Deutschlandfunk, dass die Unterhaus-Abgeordneten derzeit in einem Klima der Angst und Einschüchterung lebten. Er selbst führe immer ein Alarmgerät mit sich, nachdem 2016 seine Fraktionskollegin Joe Cox von einem Rechtsradikalen ermordet wurde. Abgeordnete würden aus Angst vor Bedrohungen gegen eigene Ansicht und Gewissen abstimmen. Es herrsche "eine ganze schlimme Zeit in Großbritannien", die er sich nie habe vorstellen können.

EU fordert Klarheit von Großbritannien

Der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) bei der Europawahl, Manfred Weber, bekräftigte indes sein Nein zu einer Teilnahme der Briten an dem Urnengang Ende Mai. Wer aus der EU austrete, dürfe keinen maßgeblichen Einfluss auf deren Zukunft haben, sagte Weber am Samstag in Nürnberg. "Deswegen bleibe ich dabei, dass wir vor den Europawahlen Klarheit haben müssen." Zugleich brachte er ein Volksvotum in Großbritannien ins Spiel, wobei unklar war, ob er ein Referendum oder Parlamentswahlen meinte. "Wenn das Parlament nicht in der Lage ist, Lösungen zu finden, dann ist klar, dass die Bürger in einer Demokratie wieder neu abstimmen müssen", sagte er.

In der Nacht auf Samstag bremste ein Demonstrant viele Stunden lang die Eurostar-Züge zwischen London und Paris aus. Britische Medien vermuteten am Samstag, dass es sich bei dem Mann um einen Teilnehmer eines Brexit-Protestmarsches handle, da er eine englische Fahne bei sich trug. Am Freitag, dem ursprünglich geplanten Austrittstag Großbritanniens aus der EU, hatten Tausende Brexit-Anhänger mit Fahnen vor dem Parlament in London demonstriert. Der 44-Jährige hatte die Nacht auf dem Dach des Bahnhofs St. Pancras in London verbracht und konnte nach etwa zwölf Stunden festgenommen werden, wie die britische Verkehrspolizei berichtete. Tausende Menschen waren von dem Chaos betroffen.