Herr Timmermans, so deprimierend wie diesmal war die Ausgangslage für die Sozialdemokraten vor Europawahlen noch nie. Warum tun Sie sich die Spitzenkandidatur an?
FRANS TIMMERMANS: Meine Frau hat am Anfang auch gesagt: Du hast sechs Wahlkämpfe geführt und jedes Mal warst du monatelang von zu Hause weg. Hast du nicht genug für die Sozialdemokratie getan? Meine Frau ist Richterin und wir haben vier Kinder. Die jüngsten sind zwölf und vierzehn Jahre alt. Wir haben über Europa gesprochen, über die Wiederkehr von Nationalismus und Rechtsextremismus und darüber, wie rasch die Lage kippen kann. Da hat meine Frau gesagt: Ich verstehe jetzt, du musst antreten, damit wir unseren Kindern, sollten sie uns eines Tages danach fragen, erklären können: Im Augenblick, da wir erkannten, es könnte schiefgehen, haben wir nicht zugesehen, sondern sind aufgestanden.

Halten Sie es tatsächlich für möglich, dass Europa scheitert?
Wir unterschätzen manchmal, wie zerbrechlich Europa ist. Wir unterschätzen aber auch die einfachen Leute, die schweigende Mehrheit, die aber doch die eigentliche Kraft unserer Gesellschaft darstellt. Diese Menschen zu mobilisieren, allen voran die Jungen, könnte Europa wieder auf den richtigen Weg bringen und verhüten, dass es sich in Nationalismen verliert. Das nämlich ist meine größte Sorge. Dass wir dieselben Fehler begehen wie unsere Großeltern und Urgroßeltern.

Überall in Europa liegt die Sozialdemokratie am Boden. Warum, glauben Sie, ist das so?
Als Ronald Reagan und Margaret Thatcher mit ihren Visionen dahergekommen sind, hat die Sozialdemokratie wie ein Judoka versucht, die wirtschaftliche Schwungmasse aufzunehmen und in eine andere Richtung zu lenken. Das hat in vielen Ländern, wo die Sozialdemokratie Verantwortung getragen hat, dazu geführt, dass es mehr Geld für Gesundheit, Bildung, Soziales gab. Aber es hat nie den Eindruck beseitigt, dass es trotzdem eine neoliberale Politik ist.

Was ist die Konsequenz daraus: eine Rolle rückwärts nach links wie Labour unter Jeremy Corbyn?
Ich will Mindestlöhne in allen EU-Staaten und dass alle, die in Europa Gewinne machen, dafür auch in Europa Steuern zahlen. Und ich will, dass die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen endet. Ist das radikal links? Der große Unterschied zwischen mir und den Linksradikalen ist, dass ich an die Umgestaltung der EU glaube, nicht an ihre Zerstörung. Ich sehe nicht, wie wir ohne sie all unsere Probleme bewältigen können. Das ist unmöglich. Aber Europa hat riesigen Reformbedarf.

Was ist das größte Defizit?
Wir haben Markt und Währung überbetont und vergessen, dass beides nur Instrumente, aber Frieden, Sicherheit und gesellschaftliche Stabilität dagegen die wahren Ziele der EU sind. Dafür brauchen wir jetzt mehr Sozialpolitik. Das ist es, was die Menschen von uns wollen.

Die sozialen Verwerfungen der Globalisierung sind dramatisch. Viele Menschen suchen Orientierung. Warum kann die Sozialdemokratie nicht davon profitieren?
Eines der Probleme ist, dass wir immer nur über Probleme reden. Ich will in diesem Wahlkampf zeigen, dass man auch optimistisch und realistisch sein kann. Ich weiß, es wird ein harter und schwieriger Kampf. Aber wir Sozialdemokraten müssen wieder daran glauben, dass wir für unsere Gesellschaft wirklich etwas bewegen können. Dass wir Pläne haben, die besser sind als die der anderen. Hören wir doch auf, uns Tag und Nacht selbst zu geißeln!

Kann es sein, dass die europäischen Sozialdemokraten das hochexplosive Thema Migration verschlafen haben?
Bitte, von wem kommen hier die Lösungen? Von denen, die nur Zäune und Mauern bauen? Oder haben doch wir in der EU-Kommission das über die Abkommen mit der Türkei und anderen Ländern sowie mit einer vernünftigen Politik geschafft? Im Vergleich zu 2015/16 kommen heute 90 Prozent weniger Flüchtlinge nach Europa. Trotzdem kann ich uns Sozialdemokraten nicht einen Vorwurf ersparen: Wir müssen viel mehr über Identität reden! Aber sobald die Rede darauf kommt, gibt es zu viele Sozialdemokraten, die sagen: Blödsinn, die heutige Krise hat nur ökonomische Ursachen. Ich dagegen bin zur Schlussfolgerung gelangt: Diese zwei Dinge sind nicht mehr voneinander zu trennen. Wenn ich nicht weiß, ob ich morgen noch meinen Job habe, dann ist das natürlich auch eine Verunsicherung meiner Identität. Das muss man nicht verneinen als Sozialdemokrat.

Wollen Sie damit sagen, die großen Ängste vieler, dass Europa durch die Migration seinen unverkennbaren Charakter verlieren könnte, sind berechtigt?
Natürlich sind sie das. Und es handelt sich um eine Frage, vor der man nicht weglaufen darf. Man muss offen darüber reden können, ja reden wollen. Ich bin auch der Meinung, dass man von Leuten, die zu uns kommen, verlangen kann, dass sie unsere Sprache erlernen und ein klares Bewusstsein für unsere Kultur erwerben. Sie sollen wissen, wie sie sich an unsere Gesellschaft anpassen müssen. Migration geht mit Problemen einher. Das war schon immer so. Fragen Sie einmal in Kanada und den Vereinigten Staaten nach! Diese Probleme darf man nicht verneinen. Doch die entscheidende Frage lautet: Kann man diese Probleme lösen? Und wenn ja, wie? Der Nationalismus löst gar nichts. Vielleicht dauert es eine Weile, aber es ist doch so: Die große Mehrheit der Migranten passt sich an. Was soll also das Gerede, dass wir überschwemmt werden? Haben wir wirklich so wenig Selbstbewusstsein? Haben wir so wenig Selbstvertrauen, dass wir fürchten, eine kleine Minderheit von Salafisten könne uns von unserem Wertekanon abbringen? Blödsinn! Wir sind doch viel stärker als die!

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang eigentlich die Rolle der österreichischen Regierung?
Vor fünf Jahren hat Jean-Claude Juncker noch gesagt, er werde nie die Unterstützung der extremen Rechten akzeptieren, um Kommissionspräsident zu werden. Ich glaube nicht, dass es heute noch einen konservativen Politiker gibt, der das sagen würde nach dieser Koalition in Österreich, aber auch wenn man sieht, wie Forza Italia versucht, mit Salvinis Lega eine Koalition zu bilden. In der Europäischen Volkspartei sollte man sich einmal fragen, ob das der richtige Kurs ist. Meistens ist es so: Wenn man andere schlagen will, indem man so wird wie sie, dann sind die Leute meistens mehr vom Original begeistert als von der Kopie. Aber das muss die österreichische Wählerschaft entscheiden. Wer führt in Österreich? Ist es Kurz, ist es Kickl? Oder ist es Strache?

Was meinen Sie?
Ich weiß es nicht. Aber die Annahme in der EVP, der Sebastian Kurz, der schafft das schon, der wird die FPÖ neutralisieren, die hat sich bis jetzt nicht bewahrheitet. Wie das Experiment ausgehen wird, das wage ich nicht zu sagen.