Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat nach Ende des EU-Asylgipfels mit 16 Staaten in Brüssel Sonntagabend zwar "viel guten Willen" der Länder, aber auch einige Unterschiede" in der Migrationsfrage geortet. Merkel erklärte, es gebe aber ein "großes Maß an Gemeinsamkeit". Sukkus sei, dass sich "alle um alles kümmern müssen".

Zeit für Fragen von Journalisten auf die Lage in Deutschland und das Verhältnis zu Horst Seehofer gab es nicht. Merkel sagte in ihrem Statement lediglich, es habe eine sehr gute und wichtige Diskussion gegeben. "Wir sind uns alle einig, dass wir die illegale Migration reduzieren wollen". Es gehe darum, "unsere Grenzen zu schützen und wir sind alle für alle Themen verantwortlich. Es kann nicht sein, dass sich die einen um Primärmigration kümmern, die anderen um die Sekundärmigration".

Wo möglich, sollte europäische Lösungen gefunden werden. "Wo nicht, sollen die, die willig sind, zusammengeführt werden und gemeinsam einen Rahmen des Handelns ausarbeiten". Dabei gehe es um die Frage der externen Dimension, die Beziehung zu den Herkunftsländern, den Transitländern. Das EU-Türkei-Abkommen bezeichnete Merkel als "beispielhaft". Doch jetzt müsse die EU die zweite Tranche zahlen.

Abkommen mit Herkunftsländern entwickeln

Deutlich sei auch gemacht worden, dass Abkommen mit Herkunftsländern zur Migration entwickelt werden müssten. Dazu werde man sich die Aufgaben unter den Mitgliedsländern aufteilen, "damit immer einige für ganz Europa arbeiten können". Schließlich gehe es um die Stärkung von Frontex, wo das Mandat gegebenenfalls ausgeweitet werden soll. Ferner dürfe man die Herkunftsländer nicht allein lassen. "Die Schlepper und die Flüchtlinge dürfen sich nicht aussuchen, in welchen EU-Ländern sie Asylanträge bearbeiten lassen. Wir müssen bestimmen, wer welche Aufgaben hat".

Bei ihrer Ankunft in Brüssel sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, es sei ein Treffen, um einen fairen Umgang innerhalb der EU mit der Migrationsfrage zu schaffen. Einerseits gehe es um die Primärmigration, also den Zustrom zu den Außengrenzen, aber auch um die Sekundärmigration, den Migrationsfluss innerhalb der EU.

Eine Lösung werde Zeit in Anspruch nehmen, es sei damit auch beim EU-Gipfel in der kommenden Woche noch nicht zu rechnen. Bundeskanzler Sebastian Kurz hat Stunden vor dem Treffen seine Bereitschaft erneuert, Österreich als Brückenbauer zu positionieren. In Brüssel betonte er, es gehe nicht um einen innerdeutschen Streit, sondern um eine eine große europäische Frage. Kurz sieht eine Chance für konkrete Maßnahmen frühestens beim Gipfel in Österreich am 20. September. Bis dahin zeigt er sich aber eher optimistisch: "Es ist möglich, Lösungen zu finden und nicht alles den Schleppern zu überlassen."

Der italienische Plan

Die Italiener haben dem Vernehmen nach einen zehn Punkte umfassenden Plan unter dem Titel "European Multilevel Strategy for Migration" mit dabei, in dem sie Vorschläge für eine Systemerneuerung zusammengefasst haben. Unter anderem soll es dabei um die Einrichtung "sicherer Häfen" gehen, von denen aus ankommende Flüchtlinge auf Europa verteilt werden könnten. Die Dublin-Regelung, nach der Migranten in dem Land einen Asylantrag stellen müssen, das sie zuerst innerhalb der EU betreten hätten, müsste komplett überwunden werden. Italien fordert "gemeinsame Verantwortung" aller EU-Mittelmeerländer bei der Aufnahme von Migranten. "Die Rettungspflicht kann nicht zur Pflicht werden, die Asylanträge aller eingetroffenen Migranten zu prüfen", heißt es im Programm, das auszugsweise von Premier Conte vorgestellt wurde.

Riesiges Medieninteresse am Eingang
Riesiges Medieninteresse am Eingang © Lieb

Die italienische Regierung drängt auf Flüchtlingseinrichtungen im Niger und in Libyen für die Erstaufnahme der Migranten. Hier soll festgestellt werden, welche Flüchtlinge Recht auf Asyl in Europa haben. Jene, denen kein Asyl zugestanden wird, sollen zurückgeführt werden. Daher solle die EU mit dem Flüchtlingswerk UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) an Programmen für die Rückführung von Migranten arbeiten. Migranten, die trotzdem illegal in Europa eintreffen, sollen auf mehr EU-Länder verteilt werden. Die italienische Regierung drängt auf eine Stärkung der EU-Außengrenzen. Italien unterstütze bereits die EU-Missionen EunavforMed, Sophia und Themis. Das Land fördere hinzu die libysche Küstenwache. Diese Initiativen sollten gestärkt werden, betonte Conte. "Wir wollen komplett das Dubliner Asylabkommen überwinden und strukturelle Lösungen für die Flüchtlingsproblematik finden. Die Öffentlichkeit in unseren Ländern fordert das von uns", meinte Conte.

Merkel unter Druck

Kommentatoren reden bereits vom "Endspiel" für die deutsche Kanzlerin. Mit dem heutigen Mini-Migrations-Gipfel in Brüssel beginnt für Angela Merkel eine siebentägige Phase, in der über die Zukunft Deutschlands - und vielleicht auch der Europäischen Union - entschieden wird.

Am Dienstag muss sie in die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, am Abend in den Koalitionsausschuss. Am Donnerstag und Freitag folgt der EU-Gipfel in Brüssel. Und am Sonntag, heute in einer Woche, will die CSU entscheiden, ob sie im Streit über die Flüchtlingspolitik die finale Eskalationsstufe zündet und Innenminister Horst Seehofer nationale Zurückweisungen an der Grenze anordnen soll. Merkel habe dann "aus der Würde ihres Amtes heraus keine Wahl" als den CSU-Chef zu entlassen, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) dem "Tagesspiegel am Sonntag".

Die Ereignisse der Jahre 2015 und 2016 – holen sie Angela Merkel jetzt ein? Ist der innerdeutsche Zwist, der Streit in der Koalition um den Umgang mit Flüchtlingen jener Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und nicht nur Deutschland, sondern die ganze Europäische Union in eine existenzielle Krise stürzen kann?
Dass sich heute, Sonntag, 16 der 28 Staats- und Regierungschefs zu einem „Minigipfel“ in Brüssel treffen, obwohl es kommende Woche ohnehin einen lange geplanten Gipfel der EU-28 gibt, geht auf Initiative von Deutschland zurück.

Merkel (CDU), die lange Zeit ihre umstrittene „Willkommenspolitik“ hatte verteidigen können, war angesichts der immer lauter geführten Flüchtlingsdiskussion in Europa von Innenminister und Koalitionspartner Horst Seehofer (CSU) unter Druck gesetzt worden. Dieser hatte – unterstützt von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) – darauf gedrängt, Flüchtlinge an den deutschen Grenzen zurückzuweisen, wenn diese bereits in anderen EU-Ländern registriert wurden – notfalls im Alleingang.

Die Folge wäre unter anderem ein Dominoeffekt: Sowohl Kurz als auch Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) sahen als logische Konsequenz eine Kettenreaktion; Österreich und andere Länder würden dann ebenfalls ihre Grenzen hochziehen: „Wir sind selbstverständlich vorbereitet und werden unsere Grenzen sichern“, sagte Strache gestern.

Lagebesprechung mit Macron

Angela Merkel verschaffte sich eine Art Aufschub von zwei Wochen und traf sich zur Lagebesprechung mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Mit dabei auf Schloss Meseberg bei Berlin: EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Es ging um die Währungsunion – und um eine neue Asylregelung. Das heutige Treffen in der Kommission sollte als „informelles Arbeitstreffen“ zur Gipfel-Vorbereitung laufen. Doch es kam anders: Italien drohte abzuspringen, als vorab schon ein Positionspapier die Runde machte, die Visegrádstaaten, die Italien und Österreich als Verbündete betrachten, boykottieren das Meeting offen und die Auseinandersetzung um Lösungsansätze wird immer lauter.
Lauter werden nun auch die Warnungen. Europas Stabilität hänge von Deutschlands Stabilität ab, sagte gestern EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani. Er sei „gegen Maßnahmen an den Binnengrenzen“. Die Lösung liege beim wirksamen Schutz der Außengrenzen, die Migrationsfrage dürfe nicht zur Zerstörung der Europäischen Union führen. Sebastian Kurz sah das in einem „Bild“-Interview in Bezug auf den Verteilungsschlüssel ähnlich: „Wir müssen jetzt aufpassen, dass die EU nicht komplett auseinanderfällt, und endlich damit aufhören, weiter über ein Verteilungssystem zu sprechen, das einfach nicht funktionieren wird“, sagte er. Und Bundespräsident Alexander Van der Bellen warnte in der „Krone“ vor den Konsequenzen eines Zerfalls der Europäischen Union. „Wir sind alle gut beraten, uns klarzumachen, was es bedeuten würde, wenn die EU zerfällt. Insbesondere die kleinen Staaten wie Österreich tun gut daran, sich das zu überlegen.“

In Deutschland bereitet man sich indessen auf die Möglichkeit vor, dass die Koalition zerfällt und die Tage von Angela Merkel als Kanzlerin gezählt sind. Beim Asylstreit mit der CDU geht es der CSU nach Einschätzung von Die-Linke-Chef Bernd Riexinger gar nicht um die Sache: „Ich habe den Eindruck, dass das ein Putsch von rechts gegen Merkel ist. Und dass das eigentliche Ziel ist, Merkel zu stürzen.“ Als treibende Kräfte sieht er CSU-Länderchef Alexander Dobrindt und den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder.
Frankreich ist pessimistisch: Es handle sich „um eine Krise unserer Stützpfeiler, unserer Werte“, so ein Sprecher. Macron brachte gestern in letzter Sekunde geschlossene Flüchtlingszentren innerhalb Europas ins Spiel – und finanzielle Sanktionen bei Nichtaufnahme.