Und wieder marschiert in der schmalen Marasesti Straße die Polizei auf, spucken Mannschaftswagen Bewaffnete aus. Wieder versammelt sich die Menge, dicht gedrängt, auf dem Siegesplatz vor der Oper, wo Rauch aufsteigt. Und doch ist alles anders: Dort, wo vor 30 Jahren die Menschen unter Einsatz ihres Lebens „Libertate – Freiheit!“ und „Nieder mit Ceausescu!“ riefen, herrscht Volksfeststimmung. Dicht an dicht stehen Grillbuden, Spanferkel brutzeln auf langen Spießen, Riesenkürbisse werden ausgestellt, Rebensaft ausgeschenkt. Entspannt feiert Temeschwar das Weinfest. „Ich bin stolz!“, sagt Danut Gavra, wenn er auf die Stadt blickt. „Vieles hat sich gut entwickelt“, meint er und stützt sich auf seine Krücke. Gavra hat sein Bein verloren für das freie Rumänien. Als die Schergen des Regimes im Dezember 1989 auf die Demonstranten schossen, zerfetzte ein Dum-Dum-Geschoss ihm die Knochen des Unterschenkels. Seine Freundin Slobodanka, sie standen Arm-in-Arm, wurde mit einem Schuss in den Bauch aus dem Leben gerissen.

Das "Genie der Karpaten"

Heute boomt die Stadt, in der der Aufstand begann. Überall wird renoviert und asphaltiert, 2021 ist Temeschwar Kulturhauptstadt Europas. „Klein-Wien“, wie die Einheimischen sagen, erstrahlt in neuem Glanz. Und doch – der 30. Jahrestag der Revolution berührt hier noch Wunden, die nicht so leicht verheilen. Während im Rest Europas die Umbrüche friedlich verliefen, eskalierte die Revolution in Rumänien in ein Massaker mit mehr als 1000 Toten – und einen Schauprozess mit Hinrichtung des Diktators und seiner Frau Elena. Die Bilder des von der Menge ausgebuhten Diktatorenpaares, das den Lauf der Dinge verständnislos verfolgt, die Flucht des „Conducators“ und „Genies der Karparten“ per Hubschrauber, auch die Fotos der blutigen Leichname des hingerichteten Paares gingen damals um die Welt und bildeten einen erschütternden Kontrapunkt. Verdaut sind die Ereignisse noch nicht.

„Wir hörten alle heimlich ‘Radio Free Europa’ und sahen, dass die Sowjets nicht mehr eingriffen“, erzählt Marius Mioc. „Das machte uns Mut“. 21 war er damals, Student der Ingenieurswissenschaften. Als er von der Straßenbahn aus sah, dass sich eine Menschenmenge vor dem Haus des Pastors Laszlo Tökes versammelt hatte, um dessen Strafversetzung zu verhindern, schloss er sich sofort an. Tökes hatte Ceausescu kritisiert – für die Armut im Land, für die geplante Landreform, der tausende Dörfer zum Opfer fallen sollten. Securitate-Polizisten knüppeln die Menge auseinander. Mioc landet im Gefängnis; gewalttätige Verhöre folgen. „Wir haben nicht erwartet, dass es bei uns so brutal wird“, sagt er heute.

Niedergeschossen

„Die Soldaten in ihren goldbraunen Uniformen stehen breitbeinig da, die Maschinenpistolen im Anschlag. Die Straße ist abgeriegelt“, schreibt die „Kleine Zeitung“ damals. Redakteur Peter Filzwieser war mitten in die Ereignisse geraten. Am 17. Dezember fallen die ersten Schüsse. Direkt neben ihm wird ein Demonstrant niedergeschossen.

Dem 75-jährigen Joan Banciu rinnen noch heute bei der Frage nach der Revolution die Tränen übers Gesicht. Er stand mit den Demonstranten an der Decebal-Brücke, als die Sicherheitskräfte das Feuer eröffneten. „Von überall her aus der Stadt dröhnt lautes Gewehrfeuer, zwischendurch verlöscht die Straßenbeleuchtung, Soldaten stehen im Halbschatten“, schreibt die „Kleine Zeitung“. Auch Joan Bancius Frau – Leontina, 39, Mutter dreier Kinder – wird erschossen. „Von hinten, ins Herz“, sagt Banciu. Sie stirbt in seinen Armen.

Die Pietà zum Gedenken an die Todesopfer an der Decebal-Brücke - viele Frauen waren ums Leben gekommen
Die Pietà zum Gedenken an die Todesopfer an der Decebal-Brücke - viele Frauen waren ums Leben gekommen © Nina Koren

Eine bronzene Pietà-Skulptur an der Brücke erinnert heute an die Opfer. Was Joan Banciu das Abschließen so schwer macht: „Leontina war unter jenen rund 40 Toten, die man einfach verschwinden ließ. Nach dem Motto: Keine Opfer – kein Verbrechen.“ In Kühltransportern waren sie nach Bukarest gebracht und dort, ohne Verständigung der Angehörigen, verbrannt worden. Ihre Asche landete, wie Banciu später herausfand, in einem Kanal. Mit anderen Opfern und Angehörigen gründete er den Gedenkverein „Memorialul Revolutiei“, um trotz Hinhalte-Taktik der Behörden Fakten über die blutigen Ereignisse der Revolution zusammenzutragen.

Systemwechsel ließ auf sich warten

Trotzdem: „Die Revolution selbst war erfolgreich“, meint Joan Banciu nachdenklich. „Heute sind wir Mitglied der EU, können reisen, und meine Kinder sind noch bei mir.“ Nach dem Tod Ceausescus übernahm eine von Altkommunisten dominierte „Front der Nationalen Rettung“ unter der Führung von Ion Iliescu die Macht – einen echten System-Wechsel leitete er nicht ein. Zur Verantwortung gezogen für das Blutvergießen wurden bis heute nur wenige; die alten Kader und Securitate-Leute fanden sich vielfach auch nach der Revolution wieder an den Schalthebeln der Macht wieder. „Es wurde gezielt Falschinformation verbreitet, bis alle so verwirrt waren, dass nicht mehr klar war, wer Blut an den Händen hat und wer nicht“, ärgert sich der einstige Häftling Marius Mioc. Er schreibt heute in Büchern und seinem Blog gegen die Desinformation an.

Laszlo Tökes, an dessen Schicksal sich damals der revolutionäre Funke in Temeschwar entzündet hatte, zog es später in die EU-Politik nach Brüssel, er lebt heute in Ungarn. Vom jetzigen Präsidenten Klaus Johannis hatten sich viele eine schonungslose Aufklärung der Ereignisse erhofft. Tatsächlich stimmte Johannis im Vorjahr einem Antrag zu, ein Strafverfahren gegen drei prominente Politiker zu eröffnen, die am Sturz Ceausescus beteiligt waren: darunter Ex- und Langzeit-Präsident Ion Iliescu. Geklärt werden soll, inwiefern sie am Tod der Aufständischen schuldig sind.

"Dallas" lässt grüßen

Hat die Revolution gebracht, was die Menschen sich erträumten? „Wir hatten keine realistische Vorstellung von der Freiheit. Ich dachte, alles würde so werden wie in der US-Serie ,Dallas’“, sagt Danut Gavra. „So reich sind die meisten nicht geworden – doch unter Ceausescus hatten wir oft keinen Strom und wenig zu essen“. Dennoch, konstatieren Soziologen, greift bei manchen die Ceausescus -Nostalgie um sich. Im Internet häufen sich verharmlosende Kommentare.

Zumindest die Kinder der Helden von damals sind dagegen immun. Gavras älteste Tochter heißt Elfriede – nach der Physiotherapeutin, die ihm in Österreich nach der Beinamputation geholfen hat. „Elfi“, wie er sie nennt, ist 18 und will nach Amerika auswandern. Sieglinde, die Jüngere, will bleiben und im neuen Rumänien ihr Glück versuchen. „Dallas“ muss es für sie gar nicht sein. „Gorbatschow hat die Revolution begonnen“, sagt Gavra, „wir haben sie umgesetzt.“