Vielleicht ist es das Alter, vielleicht die Gunst der Stunde. Wladimir Putin setzt in diesen Wochen zum Frontalangriff auf den Westen an. Verbal, diplomatisch, und, wenn es schlecht läuft, auch mit Waffengewalt. Mit rund 100.000 Mann ließ er seine Armee vor der Grenze zur Ukraine aufmarschieren. Im 70. Lebensjahr, nach mehr als zwei Jahrzehnten an der Spitze Russlands, scheint Putin entschlossen, das wieder zu „reparieren“, was aus seiner Sicht im vorigen Jahrhundert fundamental schiefgelaufen ist: das Ende der Sowjetunion, der Verlust der Großmachtstellung Russlands; der Verlust von Gebieten, die in einst zum russischen Zarenreich gehörten.

Hingenommen hat Putin diese historische Entwicklung zu Beginn der 90er Jahre nie. Bedauert hat er sie mehrfach auch öffentlich. Den Traum vom Imperium hat er nie aufgegeben. Jetzt, wo Russland militärisch erstarkt ist, wo die USA zunehmend mit sich selbst beschäftigt sind, scheint der angegraute Herr im Kreml, der sich längst als „Wladimir den Großen“ sieht, den Moment gekommen, sein Erbe zu ordnen. Und dazu gehört: Europa wieder in Einflusszonen aufzuteilen.

Zumindest geopolitisch möchte sich Putin zum Restaurator der Sowjetunion aufschwingen. All das lässt sich aus dem Forderungskatalog Putins an die Nato herauslesen, den er im Dezember veröffentlichte. Dazu gehört nicht nur, dass er einen Nato-Beitritt, den sich die Ukraine wünscht, verhindern will. Putin verlangt auch ein Ende jeglicher militärischer Aktivitäten der Nato in ehemaligen sowjetischen Gebieten. Bei den Balten, auch bei den Polen, schrillen die Alarmglocken.

Großmacht-Politik

Was wir derzeit von Putin vorgeführt bekommen, ist die Rückkehr der klassischen Großmacht-Politik. Es geht nicht um Partnerschaft, es geht um Einfluss-Sphären und Machtanspruch – und der mag für Putin bei der Ukraine beginnen – doch er endet dort nicht. Die Nato-Osterweiterung empfand Putin als Bruch eines mündlichen Versprechens. Er drängt auf ein Gleichgewicht, das es nicht mehr gibt. Die unabhängigen Letten, Esten, Polen, Tschechen entschieden sich für den Westen.

Sein Vorgänger Boris Jelzin mag in den 90er-Jahren als Staatspräsident Russlands die Unabhängigkeit von Staaten wie der Ukraine oder Weißrusslands anerkannt haben. Wladimir Putin hat damit nichts am Hut. Wie wenig, das machte er im Juli 2021 in einem Aufsatz deutlich, in dem er die „historische Einheit“ von Russen und Ukrainern beschwor und Kiew scharf drohte. „Wir werden niemals zulassen, dass unsere historischen Territorien und dort lebende uns nahe stehende Menschen gegen Russland benutzt werden“, droht Putin.

Zweites Jalta?

Viele werfen Putin vor, er wolle ein zweites Jalta, ähnlich der Aufteilung Europas durch die Sieger des Zweiten Weltkriegs. Und das kommt wohl auch hin. Die USA und Europa betonen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine. Putin testet aus, wie ernst sie das meinen. In der einstigen Sowjetrepublik Georgien bewies Putin bereits einmal, dass er bereit ist, einen Westkurs durch einen Krieg zu verhindern. Die Georgier warteten vergebens auf Hilfe aus Washington oder Brüssel.

Einverleibung

Noch ist unklar, ob Putin den militärischen Druck nutzen wird, um Zugeständnisse zu erzwingen oder ob er tatsächlich einen Angriff auf die Ukraine riskiert – etwa die endgültige Einverleibung des Ostens. Erreichen will er eine Neuverhandlung der europäischen Sicherheitsordnung. „Ziel Putins ist es, die Amerikaner aus Europa hinauszudrängen und die von den USA geprägte europäische und globale Sicherheitsordnung neu zu verhandeln“, sagt der Sicherheitsexperte Stefan Meister. Für Europa, das die Bewahrung seiner Sicherheit den USA überlässt, keine entspannte Lage.