PRO von Sylvia Hahn

Sylvia Hahn ist Migrationsexpertin an der Universität Salzburg. Die Forschungsschwerpunkte der Historikerin sind Migrations-, Stadt- und
Geschlechtergeschichte und Geschichte der Arbeit.

Sylvia Hahn
Sylvia Hahn © kk

Die Unentschlossenheit der EU im Hinblick auf eine gemeinsame Asylpolitik von Migranten hat dazu geführt, dass totalitäre Machthaber wie Erdoan oder Lukaschenko in Krisensituationen genau diese Schwachstellen nutzen, um daraus Profit zu schlagen. Es ist nicht das erste Mal, dass Menschen an die EU-Grenzen gekarrt und als machtpolitisches Druckmittel verwendet werden.

In Griechenland konnte vor rund einem halben Jahr die Grenze „gesichert“ und die Migranten, die von der Türkei in Bussen an die Grenze gebracht wurden, abgewehrt werden. Nun hat auch Lukaschenko diese Taktik aufgegriffen und seit den Sommermonaten landeten immer mehr „Ausreisewillige“ am Flughafen in Minsk. Diese gezielt durchgeführten Migrationsbewegungen könnten jedoch nicht ohne eine riesige Maschinerie von unterschiedlichen Akteuren funktionieren, die im Hintergrund dazu beitragen, dass Männer und Frauen, ja ganze Familien, ihr Geld zusammenlegen, um die Auswanderung zu finanzieren. Das Schlepperwesen ist mittlerweile weltweit zu einem der lukrativsten Wirtschaftszweige geworden, an dem global einige Millionen von Menschen beteiligt sind und sich daran bereichern. Neben der fehlenden gemeinsamen Asyl- und Aufnahmepolitik ist dies eine der gravierendsten Baustellen der EU.

Anstatt des Ausbaues von Grenzzäunen sollten viel eher größere finanzielle Ressourcen für die Aufdeckung und Zerschlagung der Schleppernetzwerke investiert werden. Die Zerschlagung dieser inhumanen und global agierenden Geschäftszweige ist eine absolute Notwendigkeit, die nicht nur von der EU, sondern weltweit gemeinsam umgesetzt werden muss. Es sind diese Agenturen und „Menschenhändler“, die den Frauen und Männern versprechen, sie in Sicherheit zu bringen oder ihre Träume von einem besseren Leben in der EU verwirklichen zu können. Und, wie wir gerade wieder sehen mussten, landen diese Menschen dann an den Grenzen und werden als machtpolitische Spielbälle benutzt.

Die EU-Staaten haben sich der Einhaltung der internationalen Flüchtlings- und Menschenrechte verpflichtet und danach sind die Entscheidungen, ob Migranten hier bleiben dürfen oder wieder zurückkehren müssen, zu treffen. Neben einer gemeinsamen Asylpolitik sollten die EU-Staaten sich auf einezukunftsorientierte und langfristig ausgelegte Aufnahmepolitikeinigen – und sich von der kurzsichtigen und nur auf einige Jahre ausgelegten Strategie verabschieden.

KONTRA von Annemarie Schlack

Annemarie Schlack ist seit 2016 Geschäftsführerin von Amnesty  International Österreich. Nach ihrem Jusstudium arbeitete sie für NGOs in Genf, New York und Indien, bevor sie nach Wien kam.

Annemarie Schlack
Annemarie Schlack © Mandl


Eine große Zahl an Geflüchteten und Migranten sitzt derzeit an der EU-Außengrenze zwischen Belarus und Polen fest, wo sie zum Spielball geopolitischer Interessen werden. Belarus schickt schutzsuchende Menschen nach ihrer Ankunft Richtung Polen weiter. Die polnischen Grenzbehörden wiederum drängen die Menschen gewaltsam zurück und verwehren ihnen den Eintritt ins Land und damit auch in die EU. Dabei handelt es sich eindeutig um illegale Pushbacks, die sowohl EU- als auch internationalem Recht widersprechen und das Leben von Menschen gefährden. Die Schutzsuchenden können weder vor noch zurück und harren seit Wochen in menschenunwürdigen Bedingungen im Wald aus, mehrere Personen sind bereits gestorben und durch die fallenden Temperaturen steigt die Gefahr weiter. Eine solche Praxis darf definitiv keinen Platz im EU-Grenzmanagement haben. 

Abseits von der Beurteilung der aktuellen Situation stellt sich allerdings – wieder einmal – die Frage, ob und wie viele Geflüchtete die EU aufnehmen soll. Ich möchte der Ausgangsfrage mit einer Gegenfrage begegnen: Dürfen wir überhaupt über diese Frage, ob wir Geflüchtete in Europa aufnehmen, nachdenken? Dürfen wir – als Staat und als Zivilgesellschaft – darüber diskutieren, ob wir unsere Grenzen aufmachen oder uns abschotten möchten? Hierzu gibt es nur eine Antwort: Nein, das dürfen wir nicht.

Doch anders, als viele nun denken, ist dies keine Frage der Moral, sondern unserer rechtlichen Verpflichtungen. Sämtliche Mitgliedsstaaten der EU haben sich zur Genfer Flüchtlingskonvention und dem darin verankerten Recht auf Asyl bekannt. Dieses beruht auf den Erfahrungen zweier Weltkriege und ist die gemeinsame Antwort auf die Grausamkeiten von Krieg, Völkermord und Verfolgung. Schutzsuchende haben demnach ein Recht auf eine faire, individuelle Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit – und dieser Anspruch lässt sich nicht kontingentieren oder aussetzen, wenn es uns gerade opportun erscheint.

Zu behaupten, dass die derzeitige Asylpolitik Europas keiner Veränderung bedarf, wäre falsch. Noch immer hat es die EU nicht geschafft, einen funktionierenden Mechanismus zu schaffen, der eine gleichmäßige Verantwortungsverteilung bei der Aufnahme vorsieht. Die Frage ist also nicht, ob wir diese aufnehmen, sondern wie und wo wir das tun. Dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten dabei ihren rechtlichen Verpflichtungen nachkommen und internationales Recht achten, ist und bleibt hoffentlich unumstritten.