Hunderttausende Soldaten aus Dutzenden Staaten, westliche Hilfsgelder in Milliardenhöhe, ein beispielloser Kraftakt der Internationalen Gemeinschaft - und trotzdem herrschen in Afghanistan wieder die Taliban. Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul ist in der Nacht auf Dienstag der internationale Afghanistan-Einsatz zu Ende gegangen. Der Westen überlässt das Land wieder jenen Islamisten, die er Ende 2001 entmachtet hatte. Was bleibt nach 20 Jahren Einsatz?

- DER WESTEN IST GESCHEITERT: Eine vor allem mit russischen Sturmgewehren und Panzerfäusten bewaffnete Islamisten-Truppe hat sich gegen die Supermacht USA und deren Verbündete durchgesetzt, die zeitweise mehr als 100.000 internationale Soldaten im Einsatz hatten. Zum 20. Jahrestag der Al-Kaida-Anschläge vom 11. September 2001 - die den US-geführten Einmarsch in Afghanistan auslösten - weht wieder die weiße Flagge der Taliban über Kabul. Jenseits der Bekämpfung des Terrorismus sei alles "nicht so geglückt und nicht so geschafft worden, wie wir uns das vorgenommen haben", räumte Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel ein. "Das ist eine Erkenntnis, die ist bitter."

- AL-KAIDA IST GESCHWÄCHT: US-Präsident Joe Biden argumentiert, das wesentliche Ziel des Einsatzes sei spätestens mit der Tötung von Al-Kaida-Chef Osama Bin Laden vor gut zehn Jahren erreicht worden. Die Organisation ist geschwächt, und tatsächlich mussten die USA seit dem 11. September 2001 keinen ähnlichen Terrorangriff mehr durchleiden. Der Sieg der Taliban ist aber auch ein später Triumph Al-Kaidas, die Organisation ist immer noch in weiten Teilen Afghanistans präsent. Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sagt: "Al-Kaida hat zusammen mit den Taliban die Macht übernommen."

- JIHADISTEN WELTWEIT SIND ERMUTIGT:Steinberg spricht von einem "Weckruf für die globale jihadistische Bewegung". Anhänger radikaler und gewaltbereiter Gruppen dürften sich in ihrer Ansicht bestätigt fühlen, dass sie nur ausharren müssen, bis dem Westen die Geduld ausgeht - die Taliban haben es vorgemacht. Das könnte auch der (mit den Taliban verfeindeten) Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) neuen Zulauf bringen. IS-Zellen sind in Afghanistan, aber auch in Syrien und dem Irak aktiv - in diesen Ländern wird ein Abzug der US-Truppen früher oder später ebenfalls zur Debatte stehen.

- DAS VERTRAUEN IN DIE USA IST ERSCHÜTTERT: Das gilt auf mehreren Ebenen: Die europäischen Verbündeten haben erleben müssen, dass Biden zwar Partnerschaft predigt, bei zentralen Fragen aber - wie sein Vorgänger Donald Trump - doch alleine entscheidet. Das galt beim Truppenabzug ebenso wie bei der Evakuierungsmission. Desillusioniert sind aber vor allem jene Afghanen, die den Versprechen geglaubt haben, dass der Westen sie nicht im Stich lassen würde. Zuletzt erlitten ein ähnliches Schicksal die mit den USA verbündeten Kurden in Nordsyrien: Trump zog 2019 einen Großteil der US-Truppen aus dieser Region ab, während der russische Präsident Wladimir Putin fest an der Seite des syrischen Machthabers Bashar al-Assad steht.

- CHINA UND RUSSLAND SIND GESTÄRKT: Während westliche Staatsbürger nach der Machtübernahme der Taliban die Flucht ergriffen, ließen Russland und China ihre Botschaften in Kabul geöffnet. Taliban-Vizechef Mullah Ghani Baradar, der als möglicher künftiger Regierungschef in Kabul gehandelt wird, wurde bereits im Juli in Moskau und Peking empfangen. 1989 war die Rote Armee erfolglos aus Afghanistan abgezogen, nun sind dort auch die Amerikaner gescheitert - Balsam für das russische Selbstvertrauen. China wiederum sieht sich als kommende Supermacht - und die USA auf dem absteigenden Ast.

- BIDEN IST ANGESCHLAGEN: In den Chaos-Tagen rund um den Abzug und die Evakuierungen hat Biden deutlich an Zustimmung verloren. Nach den Statistikern der Webseite FiveThirtyEight, die Umfragen zusammenführen und gewichten, sind erstmals mehr Menschen unzufrieden als zufrieden mit seiner Amtsführung. Eine Mehrheit der Amerikaner hält den Abzug der US-Truppen allen Umfragen zufolge zwar für richtig. Ebenso bescheinigt eine Mehrheit Biden aber schlechtes Management in seiner biher schwersten außenpolitischen Krise. Biden selber räumt keine Fehler ein.

- DER BLUTZOLL WAR ENORM:Mehr als 3.500 ausländische Soldaten kostete der Afghanistan-Einsatz ihr Leben. Unter den internationalen Truppen hatten die Vereinigten Staaten die mit Abstand schwersten Verluste, mehr als 2.460 US-Soldaten starben in Amerikas längstem Krieg. Schätzungen zufolge wurden mehr als 45.000 Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte getötet, auch Zehntausende Taliban-Kämpfer dürften ihr Leben verloren haben. Alleine seit Beginn der Zählung der Vereinten Nationen im Jahr 2009 kamen mehr als 40.000 Zivilisten ums Leben.

- DIE KOSTEN WAREN GIGANTISCH:Zeitweise kostete der Einsatz die USA mehr als 100 Milliarden Dollar im Jahr (knapp 85 Milliarden Euro). Mit der Verringerung der Truppenzahl sanken die Kosten. Für den Wiederaufbau Afghanistans hatten die USA in den vergangenen 20 Jahren insgesamt mehr als 143 Milliarden Dollar eingeplant, mehr als 88 Milliarden Dollar davon sollen den afghanischen Sicherheitskräften zugutekommen.

- IN AFGHANISTAN HAT ES FORTSCHRITTE GEGEBEN: Im Abzugschaos ist in den Hintergrund gerückt, dass in Afghanistan in den vergangenen Jahren viel erreicht wurde. Zwei von vielen Beispielen: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist von 56 Jahren 2001 auf zuletzt 63 Jahre angestiegen, die Zahl der Schüler ist von 900.000 (nur Buben) auf 9,5 Millionen (davon knapp 40 Prozent Mädchen) angewachsen. Unklar ist, welche Errungenschaften die Neuauflage des Taliban-Regimes überleben werden, ganz besonders gilt das für die Frauenrechte. Wie die Welt erfahren wird, was in Afghanistan künftig geschieht, ist ebenfalls offen. Zumindest besteht die Hoffnung, dass die Islamisten Afghanistan nicht wieder gänzlich abschotten können - Handynetze sind gut ausgebaut, Smartphones weit verbreitet.