Mit ihrer „Koalition der Willigen“ haben die USA unter George Bush die Taliban im Oktober 2001, nach den Anschlägen vom 11. September, gestürzt. Die Islamisten hatten Al-Kaida-Chef Osama bin Laden Unterschlupf gewährt. Doch trotz einer zwei Jahrzehnte dauernden internationalen Truppenpräsenz überrennen die Taliban nun nach dem Rückzug der Nato-Truppen eine Stadt nach der anderen. Selbst die Hauptstadt Kabul könnte nach Einschätzung der US-Geheimdienste bald an die Islamisten fallen.

Inzwischen hat sich die Sicherheitslage so zugespitzt, dass die USA und Großbritannien trotz ihres Abzugs gleichzeitig auch wieder Soldatinnen und Soldaten nach Kabul schicken, um eine geordnete Reduzierung ihres Botschaftspersonals abzusichern. Auch Deutschland will das Personal seiner Botschaft in Kabul in den nächsten Tagen auf das „absolute Minimum“ reduzieren. Wie konnte der Afghanistan-Einsatz des Westens dermaßen schiefgehen?



Wir sind mit der Idee nach Afghanistan gekommen, eine starke Zentralregierung zu schaffen. Das war ein Fehler“, sagte der US-Sondergeneralinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans, John Sopko, Ende Juli im Gespräch mit US-Journalisten. Die Experten hätten gewusst, dass das Land für eine solche Regierungsstruktur nicht geeignet ist, aber „niemand hat auf sie gehört“.



Nach Sopkos Einschätzung setzten sich die US-Generäle in Afghanistan vor allem kurzfristige Ziele, um bei ihrem Abgang zwei oder drei Jahre später einen Erfolg präsentieren zu können. Dabei hätten die Wiederaufbaubemühungen Zeit und Aufmerksamkeit erfordert angesichts der logistischen Herausforderungen in einem Land, in dem nur 30 Prozent der Bevölkerung rund um die Uhr Strom haben.

Auch ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) benennt klar die Fehler Washingtons: „Die Tendenz der USA, kurzfristigen militärischen Erfolgen Vorrang vor der Schaffung wirklich demokratischer Institutionen oder dem Schutz der Menschenrechte zu geben, hat der US-Mission und allen Wiederaufbaubemühungen nach 2001 einen tödlichen Schlag versetzt.“ Und ein wichtiges Argument führt der ehemalige Pentagon-Berater Carter Malkasian an: „Die bloße Anwesenheit der Amerikaner in Afghanistan setzte sich über die Idee einer afghanischen Identität hinweg, die auf Nationalstolz, einer langen Geschichte des Kampfes gegen Eindringlinge und einer religiösen Verpflichtung zur Verteidigung des Heimatlandes beruht“, schreibt Malkasian.



Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace schloss indes nicht aus, erneut britische Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Das könne der Fall sein, wenn sich dort die Extremisten der Al Kaida in einer Weise aufstellten, dass sie den Westen bedrohten, so Wallace. Afghanistan-Experten wie Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network sehen Chancen, dass es anders kommen könnte: „Ich persönlich glaube nicht, dass die Taliban so dumm sind, sich wieder mit Gruppen wie Al Kaida einzulassen und damit Antiterrorschläge auf ihr Land zu provozieren“, sagt Ruttig. „Ich denke, sie haben dazugelernt.“



In Doha dauern die Gespräche zwischen Taliban- und Regierungsvertretern für eine politische Lösung, die alle Seiten einbindet, weiter an. Aber die Hoffnungen, dass diese zustande kommt, schwinden: Die Taliban schaffen Fakten, die sie sich am Verhandlungstisch nicht nehmen lassen werden.

Republikaner in Washington kritisieren Biden scharf und fordern, er müsse der afghanischen Zentralregierung beistehen. Militärexperten argumentieren, die USA könnten zumindest noch versuchen, Kabul aus der Luft und wohl auch mit Bodentruppen vor den Taliban abzuschirmen – in der Hoffnung, sie damit doch noch zu echten Verhandlungen über eine Machtaufteilung zu bewegen