Alexander Lukaschenko will gar nicht drum herumreden. „Im Land läuft eine Säuberung“, sagt der Mann, der seit 27 Jahren die Macht in Weißrussland (Belarus) in Händen hält. Schon früher hatte er nichts dagegen, wenn sie ihn in Europa den „letzten Diktator“ nannten. Ein Jahr nach Beginn der Massenproteste gegen seine Alleinherrschaft bekennt er sich nun zu dem „Krieg gegen das eigene Volk“, von dem Regimegegner seit Langem sprechen. Lukaschenko sagt dazu: „Natürlich, es sind ja unsere eigenen Leute, deren Gehirne mit westlichem Geld gewaschen wurden. Tausende im Land arbeiten für die Gegenseite.“ Von diesen „Feinden“ will der 66-Jährige Weißrussland säubern. Der Geheimdienst KGB, die Sonderpolizei Omon, Miliz und Justiz überziehen das Land mit Razzien, Verhaftungen und Schauprozessen. Folter inklusive.



Die Menschenrechtsorganisation Wjasna (Frühling) versucht, möglichst viele Fälle zu dokumentieren, obwohl sie selbst Zielscheibe des Regimes ist. Wjasna-Gründer Ales Beljazki sitzt seit Mitte Juli in Haft. Er ist einer von mehreren Hundert politischen Gefangenen. Die Zahl steigt nahezu täglich. Am Sonntag berichtete Wjasna von 610 Fällen. Das umfasst aber nur jene Inhaftierten, denen das Regime Angriffe auf die staatliche Ordnung vorwirft. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Zu den offiziellen Fällen zählen einige der prominentesten Köpfe der Opposition, darunter die ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Sergei Tichanowski und Viktor Babariko. Lukaschenko ließ beide vor der Wahl 2020 verhaften.

Das war jener Tag, der Weißrussland von Grund auf veränderte. „Das Regime hat eine rote Linie überschritten“, erklärte die Politikwissenschaftlerin Olga Dryndova schon damals. „Es gibt kein Zurück mehr zu den Verhältnissen vor dem Wahlsonntag.“ Am Abend des 9. August 2020 behauptete Lukaschenko, die Wahl mit 80 Prozent gewonnen zu haben. Die Opposition unter der Führung des Frauen-Trios rund um Swetlana Tichanowskaja präsentierte zahlreiche Belege für Fälschungen. Hunderttausende gingen auf die Straße.

Doch damit begannen auch die „Gewaltorgien“, von denen der Journalist Igor Stankewitsch spricht. Der 45-Jährige arbeitet für den oppositionellen Fernsehkanal Belsat, der nur noch aus Warschau senden kann. Auch Stankewitsch flüchtete in die polnische Hauptstadt, nachdem er vor einem Jahr selbst in die Fänge des Regimes geraten war. Wie rund 7000 Menschen, die von der Omon-Polizei allein in den ersten vier Protestnächten inhaftiert und meist gefoltert wurden. Stankewitsch erinnert sich: „Sie brachen mir die Nase und zwangen mich auf die Knie, mit dem Kopf auf den Boden, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Dann schlugen sie mit Stöcken auf mich ein und schrien: Was gefällt dir bei uns nicht? Nur raus damit.“

Methoden ähneln jenen Stalins


Ein Jahr danach hat der zweifache Vater etwas Abstand gewonnen. Bei einem Treffen erzählt er: „Meine Großeltern sind den stalinistischen Säuberungen zum Opfer gefallen. Ich habe die Verhörprotokolle lesen können. Es lief damals alles genauso ab wie heute unter Lukaschenko. Sie quälen dich, bis du gestehst. Aber wer gesteht, hat erst recht keine Chance.“ Stankewitsch ist nicht der Einzige, der Vergleiche zwischen Stalin und Lukaschenko zieht, auch wenn das Ausmaß der Gewalt ein anderes ist. Allein im sowjetischen Gulag-System starben mehrere Millionen Menschen. Aber die Methoden seien ähnlich, analysiert der Historiker Waleri Karbalewitsch. Wie damals Stalin, so tausche auch Lukaschenko sein Personal immer wieder aus, um zu verhindern, dass ihm jemand aus dem Apparat gefährlich werden könnte.

Motiv: Rachsucht

Karbalewitsch findet ähnlich drastische Worte wie Stankewitsch: „Lukaschenko hat Weißrussland in ein Konzentrationslager verwandelt.“ Für ein wichtiges Motiv hält er die „Rachsucht“ des Präsidenten, den die EU seit der Wahl vor einem Jahr nicht mehr anerkennt. Immerhin habe das Regime im Sommer 2020 kurz vor dem Sturz gestanden, sagt Karbalewitsch: „Um das auszubügeln, will sich Lukaschenko an allen rächen, die ihm diese Wunde zugefügt haben.“ Auch an der EU. So sieht es Pawel Latuschko, der die Arbeit der Exil-Opposition koordiniert. Die jüngsten Versuche des Regimes, Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien und Afrika nach Litauen zu schleusen, seien vor allem eine Vergeltung für die westliche Sanktionspolitik.

„Lukaschenko ist ein rachsüchtiger Mensch“, sagt Latuschko. Der Eindruck speist sich aus subjektiver Erfahrung. Latuschko diente dem Regime in Minsk einst als Minister, bevor er sich der Opposition anschloss. Aber auch die objektiven Fakten stützen die These vom Rachemotiv. Da war die Entführung des oppositionellen Bloggers Roman Protassewitsch, den Lukaschenkos Spezialisten zu einem öffentlichen Schuldbekenntnis zwangen. Ebenfalls entführt werden sollte die Sprinterin Kristina Timanowskaja bei Olympia in Japan, nur weil sie Kritik am Verband übte. Und nicht zuletzt ist da der Schauprozess gegen Maria Kolesnikowa, der vor wenigen Tagen begann. Die 39-Jährige soll einen Putsch versucht haben. Tatsächlich hat sie mit den Fingern nur immer wieder ein Herz geformt und so die Proteste gegen Lukaschenko angeführt.