Englands Lockdown-Gegner jubeln. Für sie ist das Vereinigte Königreich „so gut wie über dem Berg“. Das Virus sei „auf dem Rückzug“, triumphierten in den vergangenen Tagen mehrere Londoner Zeitungen. Die „Schwarzmaler“ mit ihren ewigen Schreckensszenarien könne man getrost vergessen: „In Wirklichkeit ist jetzt das Ende der Pandemie in Sicht.“

Nicht wenige halten die Freude für verfrüht. Dass die Zahl der Covid-19-Neuinfektionen vorige Woche einmal binnen zwei Tagen um 30 Prozent gesunken sein soll, geht ihnen nicht ein. Mit wachsender Immunität der Bevölkerung, meinen sie, lasse sich das Phänomen nicht erklären. Selbst der regierungsfreundlichen „Times“ kam das Ganze „rätselhaft“ vor. Zwei Wochen nach Start des englischen Experiments, von dem sich ganz Europa Aufschluss über einen neuen Umgang mit der Pandemie erhofft, herrscht also jede Menge Ungewissheit.

Im Vertrauen auf die Wirkung weitflächiger Impfungen hatte sich die Regierung von Premier Boris Johnson entschieden, zum „Freedom Day“ des 19. Juli so gut wie alle Restriktionen aufzuheben – obwohl die seit Monaten auf der Insel grassierende Delta-Variante die Ansteckungszahlen in die Höhe trieb. So hatte am Wochenende davor die Zahl der gemeldeten Neuansteckungen bereits zweimal die 50.000 überschritten. Gesundheitsminister Sajid Javid hatte die Nation darauf vorbereitet, dass es bald 100.000 pro Tag sein könnten.

Davon ließen sich Javid und Johnson aber nicht beirren. Sie verließen sich darauf, dass auch in die Höhe schießende Infektionen nicht automatisch zu einer bedrohlichen Zahl von Patienten und Toten führen werde. Immerhin sind fast drei Viertel aller Erwachsenen in Großbritannien voll geimpft.

Wembley-Phänomen und Hitzewelle

Während alle Augen auf die täglichen Krankenhausneuzugänge gerichtet waren, kam es nach dem „Freedom Day“ allerdings zu einer unerwarteten Entwicklung. Statt weiter dramatisch zu steigen, nahmen die Ansteckungszahlen ab. Eine Woche nach dem 19. Juli waren sie bereits unter die 25.000er-Marke gerutscht. Das führte auch in der akademischen Welt zu Verwirrung. Einige Covid-19-Forscher wie der East-Anglia-Professor Paul Hunter meinten, sie hätten der von Minister Javid genannten Größenordnung von 100.000 Fällen pro Tag „eh nie geglaubt“. Auch Hunters Kollege Tim Spector, der ein unabhängiges Forschungsprogramm betreibt, will den amtlichen Zahlen nicht trauen. Einen so plötzlichen Einbruch, zumal bei gleichzeitiger Beendigung eines Lockdowns, habe es im Verlauf einer Pandemie noch nie gegeben, erklärt Spector. Das Ganze komme ihm doch „sehr zweifelhaft“ vor.

Als möglichen Grund für den abrupten Rückgang der positiven Testergebnisse identifizierten Spector und andere Experten zunächst das „Wembley-Phänomen“ dieses Sommers. Anlässlich der Fußball-EM, die am 11. Juli endete, hatten die Infektionen in England vermutlich stark zugenommen. Im Zuge der anschließenden „Pingdemie“ aber, der massenhaften App-Warnungen, isolierten sich mehr Menschen denn je – womit die Infektionsrate mit einem Mal wieder sank.

Auch eine einwöchige Hitzewelle, welche die Leute ins Freie trieb, wurde für die jähe Verringerung verantwortlich gemacht. Und natürlich der Beginn der Schulferien. Vor allem aber zeigte sich, dass die Zahl der Tests gegenüber den Vorwochen um 15 bis 20 Prozent gesunken war, was mit sehr viel weniger positiven Testergebnissen resultierte. „Besorgt“ äußerte sich Robert West, Englands prominentester Verhaltensforscher: „Es sieht so aus, als kämen die Leute nicht mehr zum Testen.“ Ein Grund, meinte Professor West, seien vermutlich die Signale des „Freedom Day“. „Die Regierung hat den Leuten grünes Licht gegeben, indem sie sagte: Letztlich ist es nicht so schlimm, wenn ihr euch ansteckt. Aber wenn ihr euch testen lasst, müsst ihr euch in Isolation begeben – was kein Vergnügen ist.“

Viele Briten zögern

Dass keineswegs alle das „grüne Licht“ exzessiv nutzen, halten viele Experten für bemerkenswert. Tatsächlich verhält sich ein Großteil der Briten so, als sei der Lockdown nie aufgehoben worden. Die überwältigende Mehrheit hält noch immer Abstand und trägt Maske, etwa beim Einkaufen. Ein falsches Bild, so klagen auch die Diskothekenbetreiber, hätten die um die Welt gegangenen Bilder von überfüllten Discos in der Nacht auf den 19. Juli vermittelt. Seither stehen viele Discos Abend für Abend leer.

Umfragen haben gezeigt, dass viele Briten der „Freedom-Day“-Rhetorik mit Argwohn begegnen und die totale Öffnung als „verfrüht“ betrachten. Auch diese Vorsicht hat das Ausmaß der Infektionen offenbar in Grenzen gehalten – wiewohl kaum jemand daran zweifelt, dass sich das Ende des Lockdowns in naher Zukunft noch in höheren Zahlen niederschlagen wird. Ab 16. August braucht sich auch niemand mehr zu isolieren, der mit einem Infizierten in Kontakt war. Und Restriktionen für Reisende aus dem Ausland werden gerade schrittweise abgebaut.

Spätestens für September, wenn die Leute aus dem Urlaub zurück sind und überall in England wieder die Schule beginnt, wird allerdings eine wirklich große Ansteckungswelle erwartet. Noch sei „die Schlacht nicht gewonnen“, warnt selbst Premierminister Johnson.

Die Frage für die meisten Experten ist, wie rasch man ein gewisses Maß an „Herden-Immunität“ erreichen kann, um den nächsten Pandemiewellen zu trotzen. Die einst rekordverdächtig hohe Zahl der Impfungen ist bedenklich abgeflacht. „Ob die Covid-19-Zahlen nun wieder steigen oder etwas sinken – die aktuelle Situation ist, dass wir noch immer eine ganze Menge an Infektionen mit einem extrem ansteckenden Virus hier haben“, meint Anne Johnson, Präsidentin der Akademie für Medizinische Wissenschaften.

Die größte Sorge gilt der Frage, ob eine gefährliche neue Variante plötzlich auf der Insel Einzug halten und den ganzen Impferfolg der letzten acht Monate zunichtemachen könnte. Das, so meinen die meisten britischen Forscher, sei das größte Risiko, das Johnson mit seinem „Experiment“ eingegangen sei. Selbst das Beratergremium der Regierung (Sage) hat jüngst einen vertraulichen Bericht erstellt, in dem die Herausbildung einer neuen Variante, die „jeden dritten Infizierten töten“ könnte, als „realistische Möglichkeit“ bezeichnet wird.

Das sei doch nur Schwarzmalerei, finden alle, die „endlich wieder Normalität“ haben wollen. Sie sind davon überzeugt, dass man nun schlicht „mit dem Virus leben“ müsse.