Wechselweise mit Grauen und einem Gefühl der Unwirklichkeit blicken Miriam Einangshaug und Jorid Nordmellan auf den schrecklichsten Tag ihres Lebens zurück – den 22. Juli vor zehn Jahren. Der Rechtsextreme Anders Breivik hatte zunächst eine 960-Kilo-Bombe im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt Oslo explodieren lassen. Acht Menschen starben. Anschließend fuhr er als Polizist verkleidet mit der kleinen Fähre auf die Ferieninsel Utøya. Es begannen regelrechte Hinrichtungen. Systematisch wie ein Roboter tötete Breivik insgesamt 69 meist junge Menschen.

Miriam und Jorid hatten wie sie am Sommercamp der Arbeiterpartei (AUF) teilgenommen. Die damals 20-jährige Jorid und ihre 16-jährige Freundin Miriam verbarrikadierten sich in einer Schlafhütte. Doch der Mörder versuchte hineinzukommen, schoss durch die Wand. Beide waren sich sicher, dass sie im nächsten Moment sterben würden. So lagen die Mädchen mit anderen zusammengezogen wie Embryos unter den Betten. Sie hielten einander an den Händen, so fest, „dass es fast schmerzte“, erzählt Jorid. Aber der Mörder ließ vom Schlafsaal ab, das ständige Knallen wurde etwas leiser, genauso wie die letzten Schmerzensschreie ihrer Freunde draußen.

Attentäter Breivik (2016)
Attentäter Breivik (2016) © AFP



Erst 60 Minuten nach dem ersten Notruf konnten die Überlebenden von der Polizei aus dem Schlafsaal eskortiert werden – vorbei an einem lächelnden Breivik. Der Weg führte auf einem Zickzackkurs durch Blut und körperliche Überreste von Jugendlichen, deren Leben eigentlich gerade hätte richtig losgehen sollen. „Er stand vor dem Hauptgebäude. Mit zwei Waffen“, erinnert sich Mirjam. „In dem Moment bekamen wir Augenkontakt. Und Breivik lächelte mich einfach an. Ich stand zwischen Leichen und stark blutenden Verletzten, und der Mann wirkte so zufrieden, so glücklich, dass ich spontan dachte, das kann nicht der Killer sein, der ist noch anderswo“, erinnert sie sich.



69 Menschen starben durch die Kugeln Breiviks, acht durch die Bombe in Oslo. Mehrere Hundert überlebten das Utøya-Massaker, weil sie ins Wasser sprangen und Richtung Land schwammen, wo mutige Zivilisten sie in ihre Boote zerrten. Auch auf die im Wasser schoss Breivik noch aus der Ferne. Der 22. Juli wird für viele Eltern auch nach einem Jahrzehnt so schmerzhaft bleiben wie am Tag der Ermordung ihrer Kinder.
Breivik, der bis heute keine Reue zeigt, wurde zu 21 Jahren Haft verurteilt, zehn davon sind schon vorbei. Norwegen hat neben der Todesstrafe auch die lebenslange Freiheitsstrafe abgeschafft. Über eine Sicherheitsverwahrung soll nun dafür gesorgt werden, dass er lebenslänglich im Gefängnis bleibt.



Der 10. Jahrestag bedeutet ein äußerst schwieriges Gedenken. Schon ein paar Wochen nach dem Massaker sagten viele in Oslo, sie hätten genug von der ewigen Berichterstattung zu Utøya. Politisch bleibt das Thema heikel. Breivik war Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei. Er behauptete, er habe mit der Bluttat die Sozialdemokraten für ihre offene Einwanderungspolitik bestrafen wollen. Der damalige sozialdemokratische Premier Stoltenberg wollte sein Land in der schweren Stunde nach dem Attentat einen, indem er niemanden kritisierte. Ein Schuss, der nach hinten losging, denn die Rechtspopulisten wurden damit aus der Verantwortung entlassen. Sie saßen bis vor Kurzem in der Regierung und betrieben Hetze gegen Muslime wie eh und je.

Gedenken an Opfer der Terroranschläge haben begonnen

Inzwischen haben die Gedenkveranstaltungen für die Opfer der Terroranschläge in Oslo und auf der Insel Utøya begonnen. Um 12.00 Uhr läuteten in Norwegen im Gedenken an die Opfer der Anschläge landesweit die Glocken. Zudem findet eine Messe in der Kathedrale von Oslo und eine weitere Gedenkzeremonie auf der Insel Utöya statt. Bei einer nationalen Gedenkveranstaltung am Abend wollte König Harald V. eine Ansprache halten.

Dennoch wollen viele in Norwegen die Fortschrittspartei und Breivik nicht gleichsetzen. Jetzt, zum zehnten Jahrestag, werfen einige den Sozialdemokraten vor, sie würden das Gedenken als Werbetrick vor den anstehenden Parlamentswahlen nutzen, bei denen den Sozialdemokraten ein Sieg vorausgesagt wird. Vielleicht schafft es heute Norwegens künftige Königin, Kronprinzessin Mette-Marit, die ihren Halbbruder bei dem Massaker verloren hat, am Gedenktag die unterschiedlichen Lager ein wenig miteinander zu vereinen.

Und dann sind da all die frechen Äußerungen Breiviks aus dem Gefängnis. Wie ein verwöhntes Kind klagt er etwa über Mikrowellenessen. Er wolle frisch zubereitete Nahrung. Auch die Version seiner Spielesoftware ist ihm zu alt. Er möchte im Übrigen gern begnadigt werden.