Über den Vorplatz des Bahnhofs Saint-Charles von Marseille spaziert eine kleine Gruppe Menschen, geschart um einen Mann mit weißem Hemd, Jackett, dunklen Jeans, Budapester Schuhen, randloser Brille. Die Sonne sticht schon am Morgen, sie macht keinen Unterschied zwischen Bösen und Guten, sie leuchtet wie stets über allen, auch über Thierry Mariani, der wahrlich nicht aussieht wie ein Rechtsextremer und doch einer ist.


Mariani macht Wahlkampf, es geht eigentlich nur um regionale Dinge, aber uneigentlich geht es ums ganze Land. Deshalb schickt die „New York Times“ einen Korrespondenten, das japanische Fernsehen hat sich angekündigt, doch Thierry Mariani, 62 Jahre alt, tut so, als sei das alles ganz normal. Heute findet die erste Runde der französischen Regionalwahlen statt, ein knappes Jahr vor den nächsten Präsidentschaftswahlen. Mariani ist auch für die internationalen Medien von Interesse, weil er für Marine Le Pens Partei Rassemblement National ins Rennen geht, nach einer jahrzehntelangen Karriere in den Reihen der diversen nicht-extremen konservativen Parteien. Nun gilt er sogar als Favorit in einer der 13 Regionen Frankreichs, im südfranzösischen Beritt Provence-Alpes-Côte-d’Azur, kurz PACA genannt: fünf Millionen Einwohner, fast tausend Kommunen, sechs Departements, darunter die Côte-d’Azur mit ihren Villen, aber auch die armen Einwanderviertel im Norden von Marseille.

Chancen für Mariani stehen gut

Es sieht derzeit so aus, als könne Mariani nicht nur die erste Runde, sondern auch die Stichwahl am 27. Juni klar gewinnen. Erstmals in der langen Geschichte des Front National, heute Rassemblement National, hätten die französischen Rechtspopulisten eine eigene Region erobern. Nicht einmal Marion Maréchal ist das gelungen, der Enkeltochter Jean-Marie Le Pens und Nichte von Parteichefin Marine.
Als sie, eine der großen Hoffnungsträgerinnen der Rechtsaußen, vor sechs Jahren die erste Runde der Regionalwahlen haushoch gewann, zogen sich Linke und Grüne bei der Stichwahl zurück, um den Sieg der Rechtspopulistin zu verhindern. In Frankreich nennen sie das seit jeher den „republikanischen Schutzwall“, der bislang immer gehalten hat. Doch diesmal geht in der politischen Mitte die Angst um. Marianis Chancen stehen gut. Wahlforscher sehen ihn als Sieger.


Ein Regionspräsident hat nur eingeschränkte Macht, aber darum geht es nicht, zehn Monate vor der Wieder- oder Abwahl Emmanuel Macrons. Diese Wahlen sind ein wichtiges Stimmungsbarometer, ein symbolisches Gefecht: Marianis möglicher Sieg wird als Präludium des Duells Le Pen gegen Macron interpretiert. Und folglich geht es nicht um Lokalpolitik, sondern um große Fragen.

Sind Frankreichs Konservative politisch tot?

Die erste lautet: Sind Frankreichs klassische Konservative politisch tot? So tot wie die Sozialisten? Und, noch entscheidender: Werden die enttäuschten konservativen Wähler eine neue Heimat beim einstigen Front National finden?


Bei der Beantwortung dieser Fragen spielt Thierry Mariani eine Schlüsselrolle, eben weil er ein Abtrünniger ist, ein Überläufer: Über 40 Jahr lang war er Mitglied der konservativen Partei, die mehrfach ihren Namen geändert hat. Er war Bürgermeister, Abgeordneter, Staatssekretär und zu Zeiten Nicolas Sarkozys sogar Minister. Doch als die Fraktion der Konservativen nach Emmanuel Macrons Wahlsieg 2017 in der Nationalversammlung auf weniger als die Hälfte der Plätze zusammenschrumpfte, verlor auch Mariani sein Mandat – und lief über ins Lager von Marine Le Pen. 2017 zog er für sie ins Europäische Parlament ein.

Es geht auf zehn Uhr zu in Marseille, Mariani, als 19-Jähriger französischer Vizemeister im griechisch-römischen Ringen, stehen kleine Schweißperlen auf der Stirn. Er will zu Wahlkampfzwecken das Polizeirevier des Marseiller Hauptbahnhofs besuchen, um Hände zu schütteln. Als zweiter Punkt des Vormittags ist eine „Kranzniederlegung an der Gedenktafel für Laura und Maurane“ angekündigt, in Erinnerung an zwei junge Frauen, die vor fünf Jahren auf dem Bahnhofsvorplatz von einem islamistischen Terroristen bei einer Messerattacke ermordet wurden.


Der Kandidat stellt sich fototauglich vor die Gedenktafel, einen Kranz gibt es nicht. Es geht um die schönen Bilder, den tintenblauen Himmel, die Kulisse. Tief drunten liegt das Meer, der Hafen von Marseille, von dem aus riesige Fähren Richtung Algier in See stechen. Auf der anderen Seite des alten Hafens thront „Die gute Mutter“ über den Hügeln, die Marien-Wallfahrtskirche „La Bonne Mère“.


Seit Jahrhunderten mischen sich Einwanderer in Marseille unter die Franzosen. Für Mariani ließe sich kein besserer Ort finden als die uralte Hafenstadt, um über seine Lieblingsthemen zu reden, über Sicherheit und Immigration. „Die Menschen hier haben genug. Die Schwelle ist überschritten, das Boot ist voll“, sagt Mariani schlicht und klar. Auch verspricht er, den islamistischen Terrorismus „auszurotten“. „Ich teile die Ideen von Marine Le Pen“, sagt Mariani, „sie ist die beste Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen“. Ein Parteibuch des Rassemblement National hat Mariani nicht. Er bezeichnet sich als „Weggefährte“. Auch das sind kalkulierte Botschaften an konservative Wähler.


Stéphane Rouvier, Senator des Rassemblement National im Wahlkreis Bouches-du-Rhône, rosafarbenes Polo-Shirt, die Uhr so dick wie der südfranzösische Akzent, ist sichtbar froh über den Fang Mariani. „Ich sehe förmlich, wie die Leute zu uns überlaufen“, sagt Rouvier lachend. Er freut sich auch über den harten, oft unflätigen Wahlkampf. „Es stinkt nach Gosse, nach Gully“, frohlockt Ravier, „das ist ein gutes Zeichen“. So ist die Politik ungefähr auf dem Niveau des Meeresspiegels angelangt. Aber das ist Teil der Strategie. Senator Rouvier wünscht sich, dass die Wähler „so angeekelt“ sein möchten, dass sie aus Wut und Protest die Rechtsaußen wählen.