Die Meldung von einer Bombe an Bord stamme aus der Schweiz, behauptete Alexander Lukaschenko. Und der Kapitän der Ryanair habe eine Viertelstunde nachgedacht, mit den Besitzern beraten und mit dem Bodenpersonal des Zielflughafens Vilnius. „Die Entscheidung haben nicht wir gefällt.“ Der Staatschef von Belarus wies gestern alle Schuld im Skandal um die Ryanair-Boeing von sich. Sie war am Sonntag nach einer Bombenfalschmeldung in Minsk gelandet, wo man prompt zwei Passagiere, den weißrussischen Oppositionsblogger Roman Protassewitsch und seine russische Freundin Sofia Sapega verhaftete.

Lukaschenko vermutet eine Provokation fremder Geheimdienste dahinter, dass ihr Flieger ausgerechnet in Minsk landete. Erst hätten die äußeren und inneren Feinde seines Landes Aufstände organisiert, jetzt seien sie zum Würgegriff übergegangen. „In nächster Zukunft geben wir alles bekannt, was sie ausgeplaudert haben, auch die gerade Festgenommenen.“

Die „plaudern“ schon jetzt. Schon am Montag hatte Roman Protassewitsch, 26, per Video erklärt, er kooperiere mit den Ermittlern und gestehe die Organisation von Massenunruhen in Minsk. Einen Tag später tauchte ein entsprechendes Video Sofia Sapegas auf. Darin gestand die 23-Jährige, sie sei Redakteurin des Telegram-Kanals „Schwarzbuch Belarus“, das persönliche Daten weißrussischer Sicherheitsbeamte verbreite.

Allerdings leierte sie diese Worte hastig herunter, als hätte sie sie auswendig gelernt. Der oppositionelle Telegram-Kanal Nexta, dessen Chefredakteur Protassewitsch früher gewesen war, schreibt: „Man hat das Mädchen unter Folterdrohungen gezwungen, etwas zuzugeben, dass sie ganz bestimmt nie getan hat.“ Protassewitschs Eltern aber äußerten gegenüber dem Exil-Fernsehsender Belsat und der Agentur Reuters den Verdacht, ihr Sohn habe seinen Videospruch mit gebrochener Nase und eingeschlagenen Zähnen aufgesagt, sein Gesicht sei stark geschminkt gewesen, um weitere Folterspuren zu kaschieren.

Sapega studierte in Vilnius internationales Recht, stand kurz vor der Diplomarbeit und interessierte sich nach Aussagen ihrer Freunde nur bedingt für Politik. Aber laut der russischen Zeitung Nowaja Gaseta will Minsk auch sie wegen der Organisation von gewalttätigen Massenunruhen anklagen. „Lukaschenko möchte nicht nur mit Protassewitsch abrechnen, dessen Kanal Nexta ihm wirklich viel Ärger bereitet hat“, sagt der weißrussische Oppositionsjournalist Pjotr (sein voller Name ist der Redaktion bekannt). „Er macht auch seiner Freundin den Prozess, um die gesamte regimekritische Diaspora und ihre Sympathisanten zu terrorisieren.“ Der Exilpolitologe Pawel Ussow habe ihn schon vor Woche gewarnt: „Lukaschenkos Sicherheitsorgane werden am ehesten Jagd auf Blogger aus der zweiten Reihe machen, damit alle Angst bekommen.“

Drohung

Ende April drohte der weißrussische Vizeinnenminister Nikolai Karpenkow im Staats-TV, man werde der Opposition nach allen Regeln der Antiterrorbekämpfung zu Leibe rücken. „Wir wissen, wo sie sind, mit wem sie verkehren, welche Immobilien sie besitzen, wo ihre Familien leben.“ Man werde sie ausmerzen.

Pjotr hat sich Ende 2020 nach Warschau abgesetzt, neben Vilnius eine der Hochburgen der Exildemokraten. In Warschau sitzen die Redaktionen von Belsat und Nexta, hier hat auch Pawel Latuschko, der Leiter des Nationalen Antikrisenmanagements der Opposition, sein Hauptquartier, während die exilierte Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja und ihr Stab in Vilnius basieren. Tausende Oppositionelle sind inzwischen aus Belarus ins benachbarte Osteuropa geflohen, hunderte von ihnen arbeiten gegen das Regime. Als Blogger, Juristen oder als Manager, die Medienkampagnen gegen Lukaschenko organisieren, aber auch gegen westliche Konzerne oder Sportverbände, die weiter gemeinsame Sache mit dem umstrittenen weißrussischen Staatschef machen.

Abhörsicher

Pjotr sagt, er habe seine Eltern aus Minsk nach Polen geholt. Vor dem Büro seiner Gruppe in Warschau patrouilliere ab und zu ein Polizeiwagen, sonst aber seien die Oppositionellen selbst für ihre Sicherheit zuständig. Immer mehr Exiloppositionelle telefonieren nur noch über abhörsichere Kanäle wie Signal, die Nexta-Redakteure gehen nicht mehr allein auf die Straße.

Andere Aktivisten glauben, Protassewitsch und Sapega seien zu leichtsinnig gewesen, als sie nach ihrem Griechenlandurlaub einen Rückflug durch den weißrussischen Luftraum buchten. „Ich habe kürzlich auf einen Flug nach Kiew verzichtet, weil ich dabei über Belarus hätte fliegen müssen“, sagt Pjotr.

Aber alle wissen, dass sie bei allen Vorsichtsmaßnahmen riskant leben. „Wenn du abends doch allein nach Hause gehst und sich mehrere Profis auf dich stürzen, landest du sehr schnell in einem Kofferraum“, sagt der IT-Experte Dmitri. Auch er will seinen wahren Namen nicht nennen, weil seine Familie noch in Belarus lebt.

Es gibt durchaus Meinungsunterschiede in der Diaspora, ob die Fähigkeiten der weißrussischen Organe für Auslandsoperationen ausreichen. Oder ob gar Killer des russischen Geheimdienstes auftauchen. „Aber wenn Lukaschenko könnte“, sagt Dmitri, „würde er uns alle umbringen.“