Nein, das Schlimmste ist noch nicht vorbei. Nicht in Indien. In Bihar, einem Bundesstaat am Ganges im Norden Indiens, trieben kürzlich die toten Körper dutzender Menschen ans Ufer des heiligen Flusses. Die Anrainer versammelten sich erschrocken um die Toten. Ärzte vor Ort schüttelten entsetzt den Kopf. Augenzeugen berichteten, sie hätten in den vergangenen Tagen immer wieder Einheimische gesehen, die ihre zu Hause Verstorbenen auf den Schultern durch die Straßen trugen. Die Covid-Krise mag in Großstädten wie Neu Delhi etwas nachlassen. In den ländlichen Gebieten schlägt sie jetzt erst so richtig zu. Die Krematorien sind überlastet. Und Bestattungskosten können sich viele hier nicht  leisten.

Mangel an Sauerstoff; Krankenhäuser, die Erstickende an ihren Toren abweisen; Sterbende in den Straßen: Das Bild, das Indien in den letzten Wochen abgab, war erschütternd. Und es ist nicht das Indien, das Premierminister Narendra Modi seinen Wählern versprochen hatte. Ein selbstbewusstes Indien, das sich Respekt in der Welt verschafft, mit einer boomenden Wirtschaft, die das Land aus der Armut holt, hatte er in Aussicht gestellt.

Welle der Verzweiflung

Bis vor Kurzem noch durfte sich der Hindu-Nationalist, der seit sieben Jahren an der Macht ist, auf den Zuspruch der Mehrheit der Bürger verlassen. Jetzt bricht eine Welle der Verzweiflung und der Wut über ihn herein. Wie könne es so ein Versagen geben, schreien die verzweifelten Angehörigen der Erstickenden. "Ich bin Baljeet und meine Mutter liegt im Sterben, weil es seit vier Tagen kein Krankenhausbett und keinen Sauerstoff für sie gibt", richtete sich in Neu Delhi eine junge Frau direkt an den Premier: Er solle die Sterbehilfe legalisieren und dann ihrer Mutter gefälligst die letzte Ehre erweisen.

Politisch bleibt das nicht ohne Folgen. Bei den jüngsten Wahlen in Westbengalen triumphiert Mamata Banerjee, schärfste Kritikerin von Narendra Modi. Corona war nicht die einzige Ursache für die Schlappe des selbstbewussten Regierungschefs. Doch sie zeigt: Sein Sieger-Image hat Kratzer davongetragen, und die Krise ist noch lange nicht ausgestanden.

Warnungen ignoriert

Modi gilt seit Jahrzehnten als einer der mächtigsten Politiker Indiens – und Kritiker halten das für Teil des Problems: Die zweite Corona-Welle habe er völlig unterschätzt - und Warnungen von Wissenschaftern und Beratern selbstherrlich in den Wind geschlagen. Anders als etwa Brasiliens Staatschef Bolsonaro, der die Gefährlichkeit des Virus überhaupt leugnet, hatte Modi auf die erste Welle rasch und entschieden reagiert. Früher als andere verhängte er strenge Ausgangsbeschränkungen. Jetzt, in der zweiten Welle, war anders: Nicht nur, dass Modi weiter davor zurückschreckt, angesichts der katastrophalen Lage einen Lockdown zu verhängen - hat noch vor wenigen Wochen Wahlkampf-Versammlungen mit Millionen Menschen initiiert und sich darüber gefreut, "dass noch nie so viele Menschen dabei" waren. Auch Pilgerfahrten und religiöse Feste ließ er zu - wohl aus Angst, den Unmut seiner religiösen Unterstützer zu verlieren.

Lange Zeit trat Modi erfolgreich als kompetenter Managertyp auf, der Indien zumindest in Teilen modernisierte. Mit der hindu-nationalistischen BJP hat er eine gut organisierte Partei hinter sich. Zur Parteibasis gehört die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), von Experten als hinduistisch-faschistoide Kaderorganisation eingeschätzt, zu deren Mitgliedern Modi selbst gehört. Bei ihrer Wiederwahl 2019 konnte die BJP ihre Mehrheit im Parlament gegenüber 2014 ausbauen.

Zugleich trieb er im multi-ethnischen Indien mit seinem rabiaten Nationalismus nicht die Versöhnung, sondern die gesellschaftliche Spaltung voran. Seine Anhänger sehen sich im Kampf gegen innere und äußere Feinde  - meistens richtet sich dieser gegen die muslimische Minderheit, oft gegen Migranten. Viele verglichen Modi mit den Rechtspopulisten europäischer Prägung.

Proteste der Bauern

Unter Druck ist Modi schon länger: Seit dem Vorjahr ist der mit Massenprotesten der Bauern konfrontiert. Auslöser ist eine Agrarreform, von der Modi sich eine Modernisierung der Landwirtschaft verspricht. Doch weil darin die Mindestpreise für landwirtschaftliche Produkte aufgehoben werden sollen, fürchten Millionen von Bauern um ihre Lebensgrundlage.

Eigenmächtige Hauruck-Entscheidungen hatten schon früher zu Problemen geführt, etwa als Modi über Nacht einen Teil des Bargelds für ungültig erklärte.

Kaschmir

Um seine Politik durchzusetzen, ist Modi durchaus bereit, die indische Demokratie und den Rechtsstaat auszuhöhlen. Kurz nach der Wiederwahl 2019 entzog seine Regierung dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir, dem einzigen mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, die verfassungsmäßig zugesicherten Selbstverwaltungsrechte. Vergangenen Februar löschte Twitter im Zusammenhang mit den Bauernprotesten, auf Druck der indischen Regierung, mehr als 500 Konten - und auch jetzt, in der Corona-Krise, mehren sich die Vorwürfe, die Regierung lasse Berichte über das wahre Ausmaß der Krise unterdrücken.

Apotheke der Welt

Modi machte Indien zur "Apotheke der Welt", lieferte Covid-Impfstoff ins Ausland - zugleich ist in Indien selbst erst rund ein Prozent der Bevölkerung geimpft - ein Risiko nicht nur für Indien, sondern auch für den Rest der Welt. Modi aber tut, als hätte er alles unter Kontrolle. Es liegt nicht nur am neuerdings wuchernden, Guru-artigen Bart Narendra Modis: Vom Mythos des tatkräftigen Technokraten ist wenig geblieben. Stattdessen werden die nationalistischen Parolen schärfer.